Galgenmann

  • List
  • Erschienen: Januar 2012
  • 1
  • Paris: L. Levi, 2011, Titel: 'Le jeu du pendue', Seiten: 229, Originalsprache
  • Berlin: List, 2012, Seiten: 249, Übersetzt: Ingrid Kalbhen
Galgenmann
Galgenmann
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Andreas Kurth
65°1001

Krimi-Couch Rezension vonOkt 2012

Unheimlicher Killer zwischen Minen und Schutthalden

Der Pariser Kommissar Simon Dreemer sitzt in einem Zug in die nordfranzösische Provinz. Er ist auf dem Weg nach Metz - ein dienstlicher Vorfall hat dazu geführt, dass ihn sein Vorgesetzter aus der Hauptstadt fort haben will, um die Situation zu beruhigen. Ruhig wird es für Dreemer in Lothringen jedoch nicht, denn in dem kleinen Dorf Varange ist ein Mädchen in einer Erdspalte gefunden worden. Die 15-Jährige wurde ermordet, und ihr Körper mit einem Strick umwickelt.  Sein neuer Chef Kowalski nimmt Simon gleich mit zum Tatort, wo der Pariser Kommissar gemeinsam mit seiner einheimischen Kollegin Jeanne Modover die Ermittlungen aufnimmt. Im Zimmer der Toten finden die Polizisten teure Kleidung und Parfum - für eine 17-Jährige viel zu edel. Zu ihren Eltern hatte das Mädchen anscheinend kein gutes Verhältnis. Zusätzliche Brisanz bekommen die Ermittlungen, als Simon und Jeanne Parallelen zu einem Mord entdecken, der vor elf Jahren ebenfalls in Varange geschah.  Das Ganze wird immer mysteriöser, als die Ermittler auch noch von einem Fall von Lynchmord im Jahr 1944 erfahren. Bis zur überraschenden Lösung müssen Dreemer und Modover noch etliche Fäden entwirren.

Die Französin Aline Kiner, die selbst aus Lothringen stammt, nimmt ihre Leser in "Galgenmann" mit in diese ungewöhnliche, und vor allem vielen Deutschen eher unbekannte Region.  Nach dem Krieg zwischen Deutschland und Frankreich wurde Lothringen 1871 vom Deutschen Reich annektiert. In den folgenden Weltkriegen war die an Bodenschätzen reiche Region jeweils heftig umkämpft, und während jeder deutschen Besetzung gab es die bei ihren französischen Landsleuten überaus verhassten Kollaborateure. Der Prolog beleuchtet schlaglichtartig die Situation in Varange am Ende des zweiten Weltkrieges. Der Lynchmord an einem Barbesitzer, den seine Landsleute für einen Kollaborateur halten, weil er mit den Deutschen zusammengearbeitet hat und deshalb von ihnen nicht in ein Konzentrationslager deportiert wurde, sorgt für einen krachenden Einstieg in die Geschichte. Geprägt wird die Handlung jedoch von der jüngeren Vergangenheit der bewegten Region zwischen Bergwerken und Abraumhalden. Lothringen ist seit Beginn der Industrialisierung vom Bergbau sowie der Stahl- und Eisenindustrie dominiert worden. Varange ist ein typisches Bergarbeiterörtchen, wo die meisten Familien mit dem Bergbau zu tun haben, und viele auch tragische Schicksale ertragen müssen – Männer, Väter und Söhne ließen ihr Leben bei Unfällen in den Minen.

Die Autorin schildert eindringlich die düstere Atmosphäre in dem Dorf, wo ganze Straßenzüge vom Einsturz bedroht sind, weil sich immer noch Spätfolgen des Bergbaus in Form von Rissen an der Oberfläche manifestieren. Zudem wird diskutiert, ob die alten Stollen geflutet werden sollen, was zusätzliche Probleme verursachen könnte. Die unruhige Lage in Varange macht den Ermittlern ihre Arbeit nicht unbedingt leichter, zumal die Bewohner des Ortes verschlossen sind wie die Austern. Diese stimmungsvollen Rahmenbedingungen vermischt Aline Kiner geschickt mit ihrer Kriminalgeschichte. Ihre Schilderungen und Dialoge wirken authentisch, wobei der Autorin ihre Kindheit in der Familie eines lothringischen Minenarbeiters sicher geholfen haben dürfte.

Mit diesem Roman zeigt Aline Kiner, dass sie eine Geschichte gut erzählen kann. Aber nachdem das tote Mädchen gefunden wurde, braucht die Autorin so einige Seiten, bis dem Leser klar wird, wohin die Reise gehen könnte. Die Ereignisse reihen sich aneinander, und schnell wird das große Manko des Buches deutlich. Kiner pflegt einen ruhigen und unaufgeregten Erzählstil, was durchaus angenehm zu lesen ist. Aber sie verschenkt auch einiges an Spannung und lesenswerten Nebenhandlungen, die man als Leser gerne ausführlicher genossen hätte. Es ist selten, dass ein Buch zu kurz geraten ist. Aber bei Galgenmann hätten 50 bis 80 zusätzliche Seiten der Autorin die Möglichkeit gegeben, hier und da die Handlung abzurunden und so etwas kompletter zu machen.

Das gilt übrigens auch für die beiden Hauptcharaktere, die im Grunde nur skizziert werden, ohne für den Leser durchschaubarer zu werden. Dreemer und Modover könnten durchaus ein passables Ermittlerduo abgeben, aber so werden sie förmlich durch die Geschichte gehetzt, ohne nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen. Zuweilen hat man sogar den Eindruck, eine oder mehrere Seiten überblättert zu haben. Da wird jemand gesucht, die Suchenden hören Klopfzeichen – und die nächste Szene spielt im Krankenhaus. Wie die gesuchte Frau gerettet wurde, wird einfach ausgelassen. Immerhin punktet der Roman durch die düstere Atmosphäre und den geschichtlichen Hintergrund – das wirkt alles authentisch und gut recherchiert. Am Ende fühlt man sich durchaus gut unterhalten, auch wenn die blassen Hauptfiguren und der zuweilen holperige Plot keinen wirklichen Tiefgang entfalten können. Nette Unterhaltung für einen langen Nachmittag – aber viel Potenzial, das in dieser Geschichte gesteckt hätte, wird von der Autorin noch verschenkt.

Galgenmann

Aline Kiner, List

Galgenmann

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