Der Andere

  • Knaur
  • Erschienen: Januar 2012
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  • New York: Simon & Schuster, 2009, Titel: 'In this way I was saved', Originalsprache
  • München: Knaur, 2012, Seiten: 343, Übersetzt: Ulrike Clewing
Der Andere
Der Andere
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Michael Drewniok
60°1001

Krimi-Couch Rezension vonAug 2012

In unserem Hirn ist nur Platz für einen

Luke Nightingale ist ein Kind, dem es scheinbar an nichts fehlt. Die Eltern sind vermögend und etabliert in der Gesellschaft von New Yorks Upper West, Mutter Claire leitet einen kleinen aber feinen Verlag, der sich auf Kriminalliteratur spezialisiert hat. Doch die Ehe der Eltern scheitert, denn Claire ist psychisch labil. Immer wieder erlebt sie manische und depressive Phasen, in denen sie zur Gefahr für sich und ihre Familie wird. Gatte James ergreift die Flucht und heiratet neu; Luke lässt er zurück, denn er argwöhnt, dass auch dieser vom Nightingale-Fluch erfasst wurde: Seit Generationen wird da Geschlecht vom Wahnsinn heimgesucht; Claires Mutter Venetia hat sich vor Jahren deshalb umgebracht.

Im Alter von sechs Jahren ruft der introvertierte, einsame, verstörte und genetisch tatsächlich vorbelastete Luke "Daniel" ins Leben. Der unsichtbare Freund wird zur einzigen Konstanten in seinem chaotischen Alltag. Aber Daniel entwickelt einen eigenen Willen. Er verachtet Luke für die Abhängigkeit von der Mutter, die er als Schwäche betrachtet. Außerdem kann Daniel nicht riskieren, dass jemand die Leere in Lukes Leben füllt, denn dies gefährdet seine Existenz, wie er erfahren muss, als er Daniel dazu bringt, den allzu geliebten Hund zu vergiften: Luke kommt in psychiatrische Behandlung und wird geheilt, was Daniel hilflos in einen Winkel seines Unterbewusstseins verbannt.

Erst zwölf Jahre später kann er sich befreien, weil der durch eine besonders intensive Wahnattacke Claires unter Seelenstress geratene Luke einen Rückfall erlebt. Dieses Mal agiert Daniel vorsichtiger. Er hat aus seinem Fehler gelernt und erweist sich in der Folge als ausgezeichneter Manipulator. Der Umzug ins Studentenwohnheim verstärkt Lukes Unsicherheit. Daniel springt in die Bresche. Immer öfter verlässt sich Luke auf ihn, was Daniels Kraft steigert. Als Luke die Gefahr endlich bemerkt, kommt es zur Konfrontation, die nur einer überleben kann ...

Zwei Seelen wohnen in seiner Brust

So fasste einst Johann Wolfgang von Goethe das Dilemma des Dr. Faustus zusammen, das sich folgenschwer so fortsetzt: "Die eine will sich von der andern trennen". Dies kann naturgemäß nicht gut ausgehen, da besagte Seelen auf den gemeinsamen Körper angewiesen sind. Der schottische Schriftsteller Robert Louis Stevenson griff dies 1886 zwar literarisch weniger kunstvoll aber unterhaltsamer auf. In Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde ist nicht die Trennung der Seelen das Problem: Beide wollen sie bleiben, sich den gemeinsamen Körper jedoch nicht teilen, sondern ihn jeweils allein beherrschen. Daraus entwickelt sich ein erbitterter, letztlich bizarrer Kampf, denn der Tod des einen wird auch den anderen umbringen, sind doch beide nur Projektionen desselben Hirns.

Nach Jekyll & Hyde konnte das Thema eigentlich nur noch variiert und verfeinert werden, denn Stevenson hatte alles Grundsätzliche gesagt. Auch Brian Deleeuw folgt mit Der Andere den tiefen literaturgeschichtlichen Spuren seiner Vorgänger. Er versucht der Geschichte Neues abzuringen, indem er sie einerseits ins 21. Jahrhundert transponiert und sie andererseits stilistisch auf eine höhere Ebene hebt. Das eine funktioniert nur bedingt, das andere greift zu kurz; bei nüchterner Betrachtung schimmert das bekannte Handlungsgerüst deutlich durch.

Sehr modern bedingt kein Wundermittel die Abspaltung von Daniel. Der Keim des Verderbens schlummert bereits in Lukes Genen, denn er ist mindestens Kind und Enkel wahnsinniger Vorfahren. Ausgelöst wird die Schöpfung des "Anderen" durch Stress und Verwahrlosung. Mutter Claire klammert, was nicht nur durch ihre Krankheit bedingt ist. Sie weiß sehr wohl um die familiäre Schwäche. Ihr obsessives Interesse am Sohn ist deshalb auch Beobachtung, denn spätestens nachdem Luke seinen Hund spektakulär vergiftet hat, ist Claire bewusst, dass ihr Sohn gefährlich werden könnte.

Auch goldene Käfige sind Käfige

Literaturkritiker lieben Schriftsteller, die sich an sozialen Schattenseiten abarbeiten. Der Autor wird zum Arzt oder Forscher und präpariert mit dem Skalpell die Schwächen dort heraus, wo sie besonders intensiv negiert und verborgen werden. Also spielt unsere Geschichte in der nicht nur künstlerisch etablierten sondern auch finanziell auf Rosen gebetteten "besseren" New Yorker Gesellschaft. Claire und ihr späterer Ex-Gatte James umgeben sich mit den Klugen, Schönen oder wenigstens Interessanten. Sie verlegt Bücher, er wirbt Gelder für kulturelle Projekte ein. Geld spielt keine Rolle, man lebt in bewachten Nobel-Mietshäusern, in denen die Drecksarbeit vom Personal erledigt wird, damit sich die High Society ihren bedeutsamen Aktivitäten widmen kann.

Der Blick hinter die Kulissen soll bei Deleeuw ernüchtern: Alles ist nur Fassade, dahinter herrschen Chaos und Kälte. Selbst wenn Claire gesund ist, beachtet sie den Sohn nicht wirklich oder instrumentalisiert ihn als Instrument ihrer Selbstdarstellung als allein erziehende Frau und trotzdem beruflich erfolgreiche Geschäftsfrau. Luke ist ihr Accessoire, und begehrt er dagegen auf, flüchtet Claire in den Wahnsinn und wartet auf das Anspringen seines schlechten Gewissens. Vater James hat sich gänzlich zurückgezogen, eine neue, hoffentlich "bessere" Familie gegründet und widmet sich seinen Pflichten Luke gegenüber nur widerwillig.

Luke erkennt zwar, wie ihm geschieht, doch er bringt nicht die Kraft auf, sich durchzusetzen und seine Gefängnismauern zu sprengen. Dies gelingt nur Daniel. Lukes zweites Ich fühlt und tut, was ihm verwehrt ist bzw. was er sich selbst verwehrt. Die Spaltung bringt Luke Erleichterung, aber er weiß um ihre gefährlichen Aspekte: Einmal aus der Flasche gelassen, will Daniel keineswegs dorthin zurück. Verhängnisvoll ist auch, dass nur Lukes volle Aufmerksamkeit Daniel Kraft und Existenz sichert.

Kampf ohne Sieger

Es kommt, wie es kommen muss: Daniel/Hyde beschließt, den schwächlichen aber latent gefährlichen Konkurrenten Luke/Jekyll endgültig zu eliminieren. Da er ihn nicht töten kann, will er ihn übernehmen. Diesen Kampf weiß Deleeuw in seiner ganzen Absurdität für den Leser nachvollziehbar und spannend darzustellen. Ganz allmählich gerät das Kräfteverhältnis aus der Waage. Die Schale neigt sich zugunsten Daniels. Der Triumph ist jedoch nur Täuschung, denn faktisch ist es ja immer noch und immer nur Luke, der mit sich selbst ringt.

Leider versucht Deleeuw jetzt, originell zu werden. Während Stevenson geradlinig den Höhepunkt der finalen Auseinandersetzung zwischen Jekyll und Hyde ansteuert, lässt Deleeuw den potenziell dramatischen Moment, in dem "Daniel" triumphierend Claire seinen Sieg über Luke schildert, quasi verpuffen: Claire kann gar nicht erkennen, dass sich ihre schlimmste Befürchtung bewahrheitet hat, denn sie ist just selbst endgültig übergeschnappt und hält sich für ihre eigene Mutter. Dieser Symbol-Overkill erschüttert nicht, er irritiert nur.

Im Finale wird es noch einmal kryptisch, denn der nun offen ausbrechende Kampf zwischen Daniel und dem keineswegs verschwundenen Luke bricht offen aus und endet nicht nur tragisch, sondern mündet quasi auch in die Einleitung ein: Eine neue Generation steht wie anfänglich Luke bereit, denn Weg in den Irrsinn einzuschlagen. Auch diese Volte greift nicht bzw. kann dem Leser nicht mehr einen letzten Schrecken versetzen. Der Andere endet, wie er begann: stilistisch anspruchsvoll im engen Rahmen eines begrenzt originellen Psychogramms. Nur punktuell kann Deleeuw zumindest jene eher genregeprägte Fraktion des Publikums packen, die auf eine überraschende Lektüre hofft.

Der Andere

Brian Deleeuw, Knaur

Der Andere

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