Die Mädchenwiese

  • Ullstein
  • Erschienen: Januar 2012
  • 8
  • Berlin: Ullstein, 2012, Seiten: 416, Originalsprache
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Jochen König
83°1001

Krimi-Couch Rezension vonAug 2012

And I kissed her goodbye, said, All beauty must die

Neuer Verlag, neuer Name, neues Thema. Obwohl Marcel Feiges (alias Martin Krist) Serienfigur Paul Kalkbrenner einen Cameo-Auftritt bekommt, greift er nicht einmal ansatzweise in die laufende Handlung ein.

Die eine der Hauptfiguren, den ehemaligen Kommissar und jetzigen Dorfwirt in Finkenwerda, Alex Lindner in die Bredouille gebracht hat. Denn sein Interesse am Fall der verschwundenen Lisa Theis stößt auf wenig Gegenliebe. Anstatt sich die Kenntnisse des Ex-Polizisten zu Nutzen zu machen, setzt der ermittelnde Beamte Frank Theis, Lisas Onkel, Lindner lieber auf die Liste der Verdächtigen. Dabei wollte Alex doch nur helfen, denn die Begleitumstände von Lisas Verschwinden, erinnern ihn an jenen Fall, der ihn seine Karriere kostete und beinahe als Alkoholiker versacken ließ. Doch Theis möchte nichts hören von der Rückkehr der "Bestie", die wenige Jahre zuvor Teenager entführte, folterte, vergewaltigte und tötete.

Doch der Leser weiß es besser. Begleitet Kirst doch die Sechzehnjährige in ihr Verlies, in dem sie erwacht, nachdem ein schönes, verlogenes Versprechen sie nach Berlin führte, an der Seite eines Mannes, der versprach, sie aus den beengten Verhältnissen Finkenwerdas und aus der wenig geliebten Gegenwart der überforderten und nach einer unerfreulichen Trennung alleinerziehenden Mutter Laura zu befreien. In betörenden Worten ist der Mann, der sich Berthold nennt, geübt. Ist Lisa doch nicht sein erstes Opfer. Und sie soll auch nicht das letzte und einzige sein wie sie bald von ihrer Mitgefangenen Silke erfahren wird.

Daheim sorgt sich derweil der kleine Bruder Sam, den jeder für einen Weichling hält. Er versucht Hinweise zu geben, ohne ein gegebenes Versprechen zu brechen, doch wie so oft hört ihm niemand zu. Als wächst er über sich hinaus, besiegt seine Angst und wird selbst dann kaum wahrgenommen. Bis es fast zu spät ist.

Auf den ersten Blick ist Die Mädchenwiese ein weiterer Serienkiller-Thriller, in dem es um einen sadistischen Mörder mit perfidem Plan geht, der seine üblen Gelüste mit Wonne ausführt, bedingt durch andauernde Traumatisierung in seiner Kindheit, und der verzweifelt einen Verbündeten sucht, den er in Alex Lindner glaubt gefunden zu haben. Was er auf seltsame Art zeigt. Nothing to write home about könnte man sagen, wenn nicht bereits zu Beginn Erzählperspektiven und Brüche zeigen würden, dass es um etwas anderes geht.

Denn parallel zu den gegenwärtigen Geschehnissen entrollt Krist die Biographie der "bösen Hexe" Berta Kutscher, die anscheinend untrennbar in die Mordserie verwickelt ist. Beginnend in den 50ern entwickelt sich die Geschichte eines, nach kurzer glücklicher Kinderzeit, missbrauchten Mädchens, das zum Wohl der, nach dem Tod des Vaters, psychisch und physisch angeschlagenen Mutter schweigt, als ihr Onkel sie fast täglich vergewaltigt, die weiter schweigt als sie nahezu bruchlos in eine Ehehölle gerät. Und wenn Die Mädchenwiese eins belegt, dann dass aus Schweigen Monster geboren werden und sich nahezu unbehelligt entwickeln können. Nebenbei entwirft Krist das Panorama eines kleinbürgerlichen Lebens in einem verschlafenen Dorf in der ehemaligen DDR. In dem sich das Grauen ausmehrt, vergraben wird, und letztlich mit Wucht nach der Maueröffnung wieder an die Oberfläche drängt. Im Verbrechen sind sich zwei Staaten mit ganz unterschiedlichen politischen Systemen sehr ähnlich.

Die Mädchenwiese ist weit mehr ein Roman über das Versagen von Kommunikation, ihren Zusammenbruch oder die alltägliche Abwesenheit als ein standardisierter Thriller. Verständnislose Unachtsamkeit führt zu Schweigen, und Schweigen wird zur Schwäche, an der sich skrupellose Geister aufrichten und mit Schrecken regieren können.

Krist geht sparsam mit expliziten, graphischen Gewaltdarstellungen um, die gerade deshalb mit betäubender Wucht über den Leser hereinbrechen. Sie verstärken die beklemmende Atmosphäre vieler Passagen, in denen sich die Protagonisten ihre eigene Hilflosigkeit eingestehen. Hölle, das sind die anderen, schrieb Jean Paul Sartre, doch der Weg in diese Hölle führt über das eigene Selbst.

Fast zwangsläufig schwächelt der Roman in der Offenbarung des Täters. Zwar wirkt sein Verhalten plausibel und im Kontext des Textes konsequent, doch werden ähnlich viele Fragen aufgeworfen wie beantwortet. Hauptproblem: Lässt sich eine Fassade tatsächlich bruchlos über mehrere Jahrzehnte aufrechterhalten, selbst wenn in nächster Nähe fieberhaft ermittelt wird? Die Auflösung ist immerhin so intelligent in Szene gesetzt, dass die offenen Fragen kein nagendes Gefühl hinterlassen.

Dafür gelingt Martin Krist auch ein kleines Kunststück: Mit Sam, dem jüngeren Bruder Lisas, erschafft er eine glaubwürdige Kinderfigur, voller Ängste und der Sehnsucht danach, diese zu überwinden. Kein frecher Naseweis, kein altkluger Besserwisser wie er so viele Bücher und Filme vergällt, sondern ein Underachiever, den seine Umwelt, bis hin zur eigenen Mutter, als Loser wahrnimmt, doch dessen helles Köpfchen so lange auf abenteuerliche Reisen geht bis der Körper folgt. Krist schildert den Jungen unprätentiös, mit Ernst und Interesse, und vermeidet so, dass er zum nervigen Nebenkriegsschauplatz wird. Gut, Sam haut das ein oder andere Mal zu viel ab, ohne dass es jemand bemerkt, und ein, zwei Aktionen/Gedankengänge sind fast schon zu durchdacht für einen angsterfüllten Grundschüler. Doch Sam ist ein stimmiger Charakter, der trotz seiner Phobien in der Lage ist, den Leser an die Hand zu nehmen und zur Mädchenwiese zu führen. Eine schwere Mission, gekonnt durchgeführt.

Die Mädchenwiese

Marcel Feige, Ullstein

Die Mädchenwiese

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