I and I

  • Pendragon
  • Erschienen: Januar 2012
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  • Bielefeld: Pendragon, 2012, Seiten: 208, Originalsprache
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Jochen König
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonJul 2012

When you're strange, No one remembers your name

I and I (Rastafarian-Englisch für "We”; danke Peter J. Kraus) versammelt Stories, Essays und Reportagen, teilweise unveröffentlicht, teilweise für das CULTurMAG/CrimeMag und diverse Publikationen entstanden.

Miniaturen aus Unter- und Zwischenwelten, wobei der zentrale Trip mit Nicolas Freeling und Janwillem van de Wetering durch Amsterdam fast 50 Seiten in Anspruch nimmt, während "Ein letzter Satz", der genau dies ist, gerade mal über zweieinhalb Seiten geht. Die drei "Fußnoten" sind sogar noch kürzer. Göhre trifft Menschen und Orte, begleitet, bzw. durchmisst sie eine Zeitlang und wendet sich anderem zu. Immer auf der Suche nach dem, was Menschen prägt, was ein bestimmtes Verhalten auslöst und nach Schnittpunkten, die Veränderungen auslösen. Manchmal nur kleine, manchmal auch essentielle, tödliche. Wie die des Killers, der aus seiner Biographie erzählt und an ihr zerbricht. Vielleicht. Möglicherweise hatte er aber auch nur das Leben satt. Die Angst davor zu vegetieren, zwischen Erinnerungen an etwas, das hätte sein können und dem was war. Göhre zieht kaum Schlüsse, wie in seinen Romanen gönnt er dem Leser den Raum, sich selbst Gedanken zu machen.

So in den Geschichten, die von Verlust handeln und Sehnsucht, von Haltlosen, Verlierer würde mancher sagen, die auf die eine oder andere Art aus der Welt, aus dem Bewusstsein ihrer Mitmenschen verschwinden. Frank Göhre schreibt dagegen an, beginnend bei Hubert Fichte, Teil einer eher herumtaumelnden als verlorenen Generation nach dem Krieg, zerrissen und zweifelnd, mit besonderem Augenmerk auf den "Reigen der Außenseiter und Beschwörer, der Analytiker und Pathologen, der Suchenden und sich mühsam Behauptenden". Ein wortgewandter Chronist, vor Jahrzehnten ständiger Begleiter in zerknautschten Jackentaschen, der heute leider eher ein Schattendasein führt.

Nahezu vergessen ist auch "Liane, das Mädchen aus dem Urwald". Göhre erzählt von Fremdbestimmung, kurzem Ruhm, Neid, Missbrauch, Illusionen und dem unvermeidlichen Absturz, stellvertretend für hunderte ähnlicher Geschichten. Voller Respekt und analytischer Schärfe. Kleine Täter, größere Opfer und die Durchmischung von Beidem. Der alltägliche Krimi.

Von dem auch "Yardie" berichtet; Drogenkriminalität, Mord und Aufruhr in Londons Straßen, eingeflochten Betrachtungen über den Autor Victor Headly, Rastafari in Gangsta’s Paradise. Hier wie im flirrenden Jamaika-Trip "I and I" kommentiert von Bob Marley, Peter Tosh, Sly & Robbie. Gewaltsamer Tod macht auch vor Reggae-Musikern nicht Halt. Beobachten, kurz stehenbleiben, weitergehen, leben.

Einsamkeit und die Brillanz von Bildern, "Angst über der Stadt", der geplante Titel für Jean-Pierre Melvilles finales Meisterwerk "Un flic" ("Der Chef"), über einen Polizisten und einen Gangster, die beiden Seiten derselben Medaille, dazwischen Catherine Deneuve. Paris, das bei Tag so aussieht wie andere Städte in der Nacht. Wo es sogar in Straßentunneln regnet. Wiedergeboren im kobaltblauen L.A., manchmal eine der kältesten Metropolen der Welt: "Heat" von Michael Mann. Das sind de Niro und Pacino, sich in einem kleinen Straßencafé erstmals leibhaftig gegenübersitzend; vermutlich spielt Treje Rypdal Gitarre dazu. Wunderbarer Soundtrack für einen wahren Noir, der die Einsamkeit des Profis mit der nie zu erfüllenden Sehnsucht nach Nähe und Vertrauen verbindet. Bestenfalls berufsbedingte Loyalität; wovon die "Goodfellas" vermutlich auch schwärmen, doch erzählt wird eine Geschichte des Verrats. Frank Göhre und Martin Scorsese. Noch zwei, die gut zusammenpassen.

Dann die Porträts: Ernest Tidyman, der Autor von Shaft, "Who's the black private dick, That's a sex machine to all the chicks? Shaft, ya, damn right". Kein begnadeter Schreiber, ein sogenannter "Routinier”, der aber mit "Shaft” (Medien)-Geschichte schrieb. James Crumley, David Osborn und Daniel Woodrell. Osborn erlebt gerade ein kleines Comeback wegen seiner, ebenfalls bei Pendragon erschienenen, Jagdzeit-Neuauflage; während Daniel Woodrell, dank Winter’s Bone und dessen Verfilmung, sogar geradezu populär genannt werden darf (und bereits mit seiner "Bayou-Trilogie" rundum überzeugte), gilt es James Crumley, und seine Loner von ganz eigener Größe Chauncey Wayne Sughrue und Milton "Milo" Chester Milodragovitch, immer wieder oder neu zu entdecken. Göhre widmet ihnen allen liebevolle und kenntnisreiche Skizzen; verlockende Anreize für eine lohnenswerte Lektüre.

Dasselbe gilt für Nicolas Freeling und Janwillem van de Wetering, die literarischen Wegbegleiter durch "Amsterdam. Was für eine Stadt, nichts als Gestank. Trotzdem herrlich". Ein Gedicht von einem Text. Kurze, intensive Blicke auf Plätze, Geschichten, Menschen. Frank Göhre auf den Spuren Van der Valks und der Kollegen de Gier und Grijpstra; quasi als Erbe Siegfried Kracauers und Walter Benjamins. Ein spätgeborener Flaneur, die dunklen Seitenstraßen immer im Visier, vom Red Light District in die Vorstädte streifend, dabei im Vorübergehen kleine Stories von Liebe, Hass und Tod erzählend. Kommentiert von zwei Autoren, deren Worte einmal mehr bewusst machen, was der Kriminalliteratur in den letzten Jahren verloren gegangen ist. Ernest Tidyman gestorben 1984, Nicolas Freeling 2003, Janwillem van de Wetering ein Jahr später, James Crumley folgte 2008.

I and I ist ein ein wehmütiges Buch geworden, aber auch ein spannendes, voller sanft-beißendem Humor, das Lust macht auf Entdeckungen. In Realität und Fiktion. Die kleine Form zeigt wie groß sie sein kann. Mehr davon und weniger von diesen breit ausgewalzten Befindlichkeitsschinken, mit Mord und Totschlag als blutrotem Sahnehäubchen.

I and I

Frank Göhre, Pendragon

I and I

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