High Life

  • Arche
  • Erschienen: Januar 2012
  • 5
  • New York: Akashic, 2002, Titel: 'High life', Seiten: 326, Originalsprache
  • Zürich; Hamburg: Arche, 2012, Seiten: 447, Übersetzt: Joachim Körber
High Life
High Life
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Jochen König
44°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2012

Fäkalien-Horror schockt Vera Int-Veen!

Ein unterschätztes, formal und inhaltlich radikales Meisterwerk oder billige Provokation? Das ist die zentrale Frage, auf die man bei der Beschäftigung mit Matthew Stokoes High Life unweigerlich stößt. Ein Roman, der Ken Bruen stammeln lässt: "Wie Schlagring auf Hirn", dessen amerikanischer Herausgeber schmollend anmerkt, angesichts der mageren Verkaufszahlen der Erstausgabe 2002, dass es völlig unverständlich ist, dass "High Life" nicht für die gleiche Furore sorgt wie weiland Bret Easton Ellis´ American Psycho" oder Chuck Palahniuks, von David Fincher hervorragend verfilmter, Fight Club.

Protagonist Jack lebt in einem miesen Appartement, in einem miesen Vierte von Los Angeles, hat einen miesen Job und träumt davon im Fernsehen aufzutreten. Hier blitzt tatsächlich jener grenzüberschreitende, todtraurige Sarkasmus auf, der aus High Life mehr hätte machen können als eine Blut-, Fäkalien- und Sperma-Show: Die Romanfiguren sind nicht einmal in der Lage, ihren Träumen Größe zu verleihen. Nicht der nächste Brad Pitt, George Clooney, Tom Cruise zu werden ist das Ziel, sondern jemand, der sich in der Nähe der Stars aufhält, um in einem Nischensender darüber berichten zu dürfen. Doch bevor es soweit ist, muss Jackie den versifften Boden küssen. Ganz tief unten. Denn seine Frau Karen, Prostituierte und Nierenspenderin gegen Bargeld wird ermordet. Komplett ausgeweidet wird sie aufgefunden und natürlich ist Jack der hauptverdächtige. Zumindest für den höchst obskuren Cop Ryan, der als einziger die kaum nachweisbare Verbindung zwischen Jack und Karen zu kennen scheint. Er heftet sich an Jacks Fersen und schnell wird klar, dass mehr als berufliche Interessen seine Beweggründe sind, den Mord an Karen aufzuklären.

Nach einer kurzen Phase der Katatonie kommt Jack wieder auf die Beine, arbeitet für einen Escort-Service, baut Mist und lernt dabei aber mit der schwerreichen Ärztin Bella die Frau seines Lebens kennen. Er kommt dank ihrer Hilfe beim Fernsehen unter, hat Erfolg, doch leider immer noch Ryan im Schlepptau. Der ihm zwangsweise immer vertrauter wird. Gemeinsam kreisen sie Karens Mörder ein.

Derart zusammengefasst klingt es nach einem eher stereotypen, nachtschwarzen Kriminalroman, der ein typisches Noir-Element Mensch auf der Kippe gerät unter Verdacht und muss eine Reise ans Ende der Nacht antreten, um seine Unschuld zu beweisen mit Medienschelte, Kritik an der alles beherrschenden Oberflächlichkeit und illegalem Organhandel mixt, um am Ende einen geläuterten Anti-Helden zu gebären, der traurig den Kopf schüttelt über den Zustand der maroden Welt.

Doch das ist Stokoe nicht genug, Exzesse müssen her, nicht nur sexueller Natur, sondern auch der Gewalt. Damit aus dem leidlich spannenden Bericht eines Absturzes ins Dunkel, eine laut kreischende Provokation wird oder lieber noch, Tabubruch sich an Tabubruch reiht.

Was mit Fäkalsex, SM-Praktiken der körperverletzenderen Art beginnt, geht weiter über Selbstbefriedigung zu Fotos ermordeter und geschändeter Frauen, erlebt seine "Höhepunkte" bei Nekrophilie im Leichenschauhaus, Masturbation mit frisch entnommenen Organen und endet bei einer tödlichen Strangulationsvergewaltigung, in deren Verlauf alle nur möglichen Körperflüssigkeiten die Buchseiten überfluten. Gut, danach kommt noch die obligatorische zynische Schlusspointe. Immerhin versagt sich Stokoe ein moralisches "Crime doesnt pay"-Finale. Andererseits: Vielleicht wäre es eine mutige Entscheidung gewesen, genau JENES zu liefern. Denn was erwartet man von einem Buch, das anscheinend keine (moralischen) Grenzen kennt? Genau, den Sieg der Amoral. Nichts Neues also unter der brennenden Sonne Kaliforniens.

Stokoe möchte Grenzen verletzen, par excellence vorgeführt in der Welt der Schönen und Reichen, gerne angesiedelt im Medienmilieu, aufgemischt durch nichtsnutzige Proletarier, die mal als Opfer, mal als Täter enden. Das ist so willkürlich wie austauschbar; Stokoes Figuren gehen einem, um im Kontext des Buches zu bleiben, komplett am Arsch vorbei. Was mit wem passiert ist völlig wurscht, Hauptsache, es passiert überhaupt etwas und wichtiger noch: WIE es geschieht. Schön grafisch, dezidiert zwischen Klärgrube, OP-Saal und Fabrikhalle, in der sich Bohrer nicht durch Beton, Holz oder Metall, sondern durch Fleisch und Knochen fräßen.

Böser Matthew, böser Jack, böser Ryan. Stokoe verkennt dabei, dass mittlerweile die meisten der sexuellen Praktiken, die er so anschaulich schildert, im Netz nur darauf warten von pickligen Dreizehnjährigen abgerufen zu werden. Ohne jeden Kontakt zur Welt der TV- und Filmproduktionsanstalten.

Er hinkt hinterher. Als hätte es Charles Bukowski, William Burroughs, u.a. nicht gegeben. Bukowski konnte in seinen guten Phasen mit einem Gedicht, einer Kurzgeschichte, gesellschaftliche Gefüge radikaler dekonstruieren als Stokoe über 450 Seiten. Es existiert nichts, was nicht Pier Paolo Pasolini mit seiner Verfilmung der "120 Tage von Sodom" des Marquis de Sade wesentlich eindrücklicher und durchdachter eingebettet in einen politischen Kontext präsentiert hätte. Da müssen nicht einmal die so verzweifelt als Vergleiche ersehnten Bret Easton Ellis und Chuck Palahniuk herbeizitiert werden.

High Life erinnert an ein Computerspiel, dessen Zielsetzung lautete, indiziert oder gar verboten zu werden. Eindimensionale Avatare hüpfen, rennen, vögeln, morden durch die Gegend, als Speicherpunkte dienen Orgasmen der unterschiedlichsten Art, und jedes Level endet mit einem höchst brutalen Metzelmord. So beliebig wie austauschbar und am Ende einfach nur langweilig, weil High Life natürlich nicht gelingt, was kaum eines dieser Werke vermag: das Level des Entsetzens bis zum Ende hin zu steigern. Doch der größte Fauxpas ist zu verkennen, worin dieses Entsetzliche überhaupt liegt. Nämlich nicht in den (Sehn)süchten derangierter Geister und einer aus den Fugen geratenen Gesellschaftsschicht; sondern unverbrüchlicher Teil dessen zu sein, was wir "menschlich" nennen.

Womit wir wieder beim Anfang wären: High Life ist kaum mehr als eine brachiale Provokation, die wenig zu sagen und darzustellen hat, was nicht vor Jahrzehnten (teilweise Jahrhunderten) schon wesentlich eindrucksvoller und nachhaltiger geschehen wäre.

Was bedauerlich ist, denn Matthew Stokoe ist durchaus in der Lage, fokussiert und mit gekonnter Verknappung auch Drastisches zu (be)schreiben, Oberflächlichkeit und Verlorenheit in Momentaufnahmen zu erfassen, was seinen Widerhall in Joachim Körbers Übersetzung findet. Doch präsentiert er das Ganze als einfaches Abhaken von widerwärtigen Gegebenheiten, unterbrochen vom drogengeschwängerten Treiben lassen. Das sich wiederholt und wiederholt. Insofern passend TV-nah. Ein trauriges und ödes Unterfangen. Betrieben von einem Autoren mit Potenzial. Bedauerlich und vor allem in seiner kompletten Witzlosigkeit keine "klassische, anstößige Gesellschaftssatire", die Dennis Cooper um Anerkennung "aufgeschlossener Leser und Kritiker" bettelnd, beschwört.

In einem Punkt ist High Life allerdings "meisterlich": gegenüber Matthew Stokoe sind die meisten der derzeit als "Slasher-Könige" und ultimative Gorehounds angetretenen Autoren wie Richard Laymon, Bryan Smith, Brian Keene und der blutspuckende Rest, zurückhaltende Chorknaben, die den kleinen Finger beim Teetrinken abspreizen. Blutiger, stinkender Horrorschwanzvergleich: Matthew Stokoe: 1. Der Rest: 0. Aber hoffentlich nicht der einzige Lesegrund.

PS.: Die Überschrift ist eine völlig aus dem Zusammenhang gerissene News-Schlagzeile von heute. Irgendwie passend.

High Life

Matthew Stokoe, Arche

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