72 Jungfrauen

  • Haffmans & Tolkemitt
  • Erschienen: Januar 2012
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  • London: HarperCollins, 2004, Titel: 'Seventy-two virgins', Seiten: 326, Originalsprache
  • Berlin: Haffmans & Tolkemitt, 2012, Seiten: 416, Übersetzt: Juliane Zaubitzer
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Jürgen Priester
84°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2012

Skurril, subtil, brachial

Wie heißt der Bürgermeister von London? Eine Frage, die lange Jahre sicherlich kaum jemand hier bei uns beantworten konnte. Seit 2008 ist es der schillernde Alexander Boris de Pfeffel Johnson der von der Boulevardpresse liebevoll BoJo genannt wird. Der frühere Journalist und Herausgeber des konservativen Nachrichtenmagazins "The Spectator", hatte schon in seiner Zeit (2001 – 2008) als Abgeordneter der Torys im britischen Unterhaus durch seine exzentrischen Auftritte die besondere Aufmerksamkeit der britischen Öffentlichkeit erregt. In 2004 veröffentlichte er seinen Roman Seventy Two Virgins, der nun zeitnah zum Beginn der Olympischen Spiele in London in deutscher Übersetzung erschien. 72 Jungfrauen ist eine bitterböse Politsatire, die sich mit den geradezu paranoiden Ängsten britischer Entscheidungsträger vor Terroranschlägen spielt.

Der Besuch des amerikanischen Präsidenten steht an und London wird zu einer Festung ausgebaut. Straßensperren, allgemeine und spezielle Verkehrskontrollen, Sperrzonen unterschiedlicher Priorität, verschweißte Kanaldeckel und Scharfschützenstellungen auf exponierten Gebäuden, Luftüberwachung mit Helikoptern, Radar und via Satellit. Sicherheitsvorkehrungen, die im Roman noch wie satirische Übertreibungen anmuten mögen, sind im Vorfeld der Olympischen Spiele Eins zu Eins verwirklicht worden, was beweist, dass Johnsons Szenario nicht völlig aus der Luft gegriffen ist.

Der amerikanische Präsident – es handelt sich um George W. Bush, auch wenn sein Name nicht explizit genannt wird – soll/will/muss in der ehrwürdigen Westminster Hall eine Rede vor einem handverlesenen Publikum halten. Da Bush nun mal nicht zu den beliebtesten Politikern der Gegenwart zu zählen ist, sind alle oben beschriebenen Maßnahmen vonnöten, um einen reibungslosen Ablauf des Events zu gewährleisten. Alle Eventualitäten haben die Sicherheitsstrategen durchdacht, nur eine Verkettung von unglaublichen Zufällen, Fahrlässigkeit und Inkompetenz des eigenen Personals hatten sie nicht auf ihrem Tableau. Tatsächlich gelingt es vier "Terroristen", die Phalanx der Sicherheitskräfte zu umgehen. In einem gestohlenen Krankenwagen gelangen sie in die unmittelbare Nähe des Parlamentsgebäudes und mit der Unterstützung freiwilliger und unfreiwilliger Helfer können sie die illustre Versammlung stürmen, um den amerikanischen Präsidenten mit einer eigentlich leicht zu erfüllenden Forderung zu konfrontieren: die Freilassung aller Guantanamo-Häftlinge.

Boris Johnsons 72 Jungfrauen ist für Freunde des ernsthaften Spannungsromans nicht bedingt empfehlenswert - man muss schon eine gute Portion Toleranz aufbringen – für Liebhaber des typisch britischen Humors ist es ein Highlight. Schauen wir mal auf die Kurz-Definition des Begriffes bei Wikipedia: "Als Hauptmerkmale britischen Humors werden häufig Trockenheit, Schwärze, unverblümte Direktheit, Absurdität und Understatement genannt. Gerade der spannungsreiche Gegensatz zwischen Understatement und (bisweilen grausamer) Direktheit macht dabei den Grundzug britischen Humors aus: Ungeheuerlichkeiten, so könnte man sagen, werden stets präsentiert, als seien sie etwas Alltägliches". Dies und noch so einiges mehr präsentiert der Autor in seinem Plot über vierhundert Seiten, der sich auf einen Handlungszeitraum von gerade mal dreieinhalb Stunden verdichtet. Wie die Perlen an einer Schnur reiht sich Gag an Gag, wobei sich Johnson leider auch Ausrutscher leistet, die die Grenzen des guten Geschmacks überschreiten.

Aber wo verläuft die Grenze des guten Geschmacks? Die muss jeder Leser oder jede Leserin selber ziehen. Wenn der Rezensent darüber nachdenkt, mit welcher Begeisterung die "Krimis" einer niederbayrischen Autorin aufgenommen werden, die er für dummen, gefährlichen, da tendenziell ausländerfeindlich, Klamauk ansieht, läuft es ihm eiskalt den Rücken herunter. Da ist Boris Johnson doch ein ganz anderes Kaliber. Zwar gibt es bei ihm auch Klamauk um des Klamauks Willen, aber auch viele feinsinnige Anspielungen und Wortspiele, die seine intimen Kenntnisse über die Schwächen des britischen Staatsapparates widerspiegeln. Well done. Boris!

Humor in Krimi oder Thriller wirkt immer polarisierend. Entweder passt er zum Leser oder nicht. Im Falle der 72 Jungfrauen von Boris Johnson empfiehlt es sich, die Leseprobe, die ein großer Online-Buchverkäufer anbietet, zu nutzen.

Der Rezensent hat die Lektüre mit großer Skepsis begonnen, mit Erstaunen weiter gelesen und Begeisterung zu Ende gelesen. Er vergibt heiße 84 Grad, weiß aber auch, dass den einen oder anderen eiskalt erwischen könnte.

72 Jungfrauen

Boris Johnson, Haffmans & Tolkemitt

72 Jungfrauen

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