Das Erbe des Blutes

  • Goldmann
  • Erschienen: Januar 2010
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  • New York: St. Martin´s Minotaur, 2008, Titel: 'The blood detective', Seiten: 299, Originalsprache
  • München: Goldmann, 2010, Seiten: 351, Übersetzt: Stephanie Kramer
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Michael Drewniok
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonApr 2012

Blutige Spur in staubige Vergangenheit

Als auf dem Gelände der St. John’s Church im Londoner Stadtteil Kensington der Broker James Darbyshire erstochen und ohne seine Hände gefunden wird, geht der Fall an die Metropolitan Police und dort an Chief Inspektor Grant Foster von der Mordkommission West-London. Mit seinen Kollegen Inspektor Andy Drinkwater und Sergeant Heather Jenkins nimmt er die Ermittlungen auf, die aufgrund mangelhafter Indizien ins Leere zu laufen drohen, bis Foster auf der Brust der Leiche eine eingeritzte Botschaft entdeckt.

Was "1A137" bedeutet, weiß Sergeant Jenkins, die sich für Familiengeschichte interessiert: Es ist der Verweis auf eine alte Sterbeurkunde. Um sich die Arbeit zu erleichtern, heuert das Team den Ahnenforscher Nigel Barnes an, dessen Job es ist, in uralten Akten und Büchern zu fahnden.

In der Tat kann Barnes helfen, doch das Ergebnis ist bizarr: Die Sterbeurkunde ist auf den Arbeiter Eke Fairbairn ausgestellt, der im Jahre 1879 als mehrfacher Mörder verurteilt und gehenkt wurde! Dieses Urteil basierte offensichtlich auf einem Justizirrtum oder gar auf einer Verschwörung, für die mehr als ein Jahrhundert später Rache genommen wird: Der Mörder von James Darbyshire mordet exakt nach dem Muster der historischen Bluttaten weiter.

Es wird noch grotesker: Wie 1879 beeilt sich die Polizei, den Medien und der Öffentlichkeit einen "Täter" zu präsentieren, der nach Fosters Ansicht unschuldig ist. Um das gesamte Spektrum der Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu entdecken, ist es wichtig, die Ereignisse von 1879 akribisch zu rekonstruieren. Dabei ist die Unterstützung durch Nigel Barnes unverzichtbar.

Die Archivrecherchen gestalten sich allerdings mühsam und fordern Zeit, die der Polizei davonläuft, denn nach dem !Terminplan! von 1879 steht der nächste Mord unmittelbar bevor. Außerdem ist ein Mitglied des Ermittler-Teams den historischen Ereignissen enger verbunden als geahnt, was der in dieser Hinsicht leider besser informierte Mörder mit den bekannten Folgen zu ahnden gedenkt …

Die Vergangenheit ist alles andere als tot

Die Mehrheit unserer Mitmenschen lebt im Hier und Jetzt; das Interesse richtet sich eher auf eine Zukunft, die gefälligst besser zu werden hat. Was die Vergangenheit betrifft, so stehen diese Zeitgenossen auf dem Standpunkt, dass diese im buchstäblichen Sinn vergangen ist und jegliche (persönliche) Bedeutung verloren hat. Dass dem nicht so ist, wird ihnen nur punktuell klar, wenn es beispielsweise etwas zu erben gibt oder ein Strafmandat ins Haus flattert, aber selbst dann endet die Vergangenheit spätestens im Vorjahr.

Unschöne Vorfälle in der Vergangenheit hemmen verständlicherweise die Bereitschaft, sich mit ihr auseinander zu setzen. Prinzipiell mögen sie ihre Brisanz allmählich verlieren. Allerdings gibt es eine Korrelation zwischen Ereignis und Gedächtnis: Je übler die Tat, desto länger dauert es, bis sie im Nebel der Geschichte verschwunden ist bzw. jene lästige Klebrigkeit verloren hat, mit der sie auch an in der Regel unschuldigen Nachfahren heftet; die Familie Hitler dürfte hiervon ein Lied singen können.

Zwar gibt es Menschen, die ganz und gar nicht so denken. Dazu gehören beispielsweise und sogar von Berufswegen Anwälte oder Priester, denen aufgetragen wurde, einen letzten Willen zu vollstrecken, dessen Verursacher womöglich Jahrzehnte für eine Zukunft vorausgeplant hat, die ohne ihn stattfinden wird. Darüber hinaus gibt es die Zunft der Historiker, deren Mitglieder es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Vergangenheit zu erforschen, weil sie u. a. auf dem Standpunkt stehen, dass man aus der Geschichte lernen kann. In Das Erbe des Blutes spielt Autor Dan Waddell die genannten Aspekte durch und arbeitet heraus, wie die intensive Beschäftigung mit dem Gestern eine Mordserie von Heute provozieren kann.

Die Vergangenheit ist manchmal staubig

Mindestens die letzten 250 Jahre sind auf Papier präsent geblieben. Wichtiges und Unwichtiges wurde niedergeschrieben, aufbewahrt oder gedruckt. Es entstanden riesige Archive und Bibliotheken, in denen diese Informationen keineswegs verloren sind. Man muss sie nur zu finden und zu erschließen wissen. In dieser Hinsicht gleicht die Arbeit des Historikers der des Detektivs oder Polizisten. Dan Waddell hat einen Weg gefunden, auf der Basis dieser Erkenntnis eine spannende Geschichte zu erzählen.

Selbstverständlich ist es die meiste Zeit öde, sich durch alte Aktenstöße oder vergilbte Bücher zu arbeiten, denn so problem- und nahtlos wie in Das Erbe des Blutes fügen sich Informationsfragmente leider nicht zusammen. Der Polizist kennt dieses Problem aus anderem Zusammenhang: Die Befragung vieler Zeugen, von denen die meisten oder gar alle nichts zum Fall betragen können, ist das harte Alltagsbrot des Fahnders. Aus dieser Routine, die in Langeweile ausarten kann, macht Waddell keinen Hehl. Er muss die Realität deshalb ein wenig raffen und dem Zufall auf die Sprünge helfen, um seinen Lesern, die unwillig sind, an allzu endlosen Stöbereien teilzunehmen, die Spannung zu bewahren.

Diese Balance gelingt Waddell mit einer Leichtigkeit, die von echtem Talent als Informationsschürfer und Schriftsteller kündet. Waddell ist selbst kein Historiker, sondern Journalist. Als solcher hat er sich nicht nur mit der fachlichen Materie vertraut gemacht. Es ist darüber hinaus sein Job, dieses Wissen seinem Publikum so verständlich wie möglich nahezubringen. Dies gelingt ihm so gut, dass nicht einmal die Absurdität des Plots das Lektürevergnügen schmälert.

Skandale und ihre Lebensdauer

Man glaubt es kaum, aber Waddell schafft es, die Ereignisse von 1879 mit denen der Gegenwart so zu verknüpfen, dass sich daraus ein Sinn ergibt. Er arbeitet mit dem psychologischen Aspekt, den er nicht überstrapaziert, sondern geschickt in seine Story einfließen lässt. Die Beschäftigung mit der (eigenen) Geschichte ist nicht ohne Risiken. Schon angesprochen wurde, dass mancher dunkle Fleck auf einer vermeintlich weißen Weste nicht einmal mit der Zeit ausbleichen will. Die Beschäftigung mit diesem Thema kann zur fixen Idee werden.

Wobei es hilft, wie gut es Waddell gelingt zu verdeutlichen, dass uns die Vergangenheit nahe ist: nur drei oder vier Generationen führen uns tief zurück ins 19. Jahrhundert. Das "Gedächtnis" einer Familie überbrückt diese Distanz oft besser als erwartet. Kommt zu einer entsprechenden Überempfindlichkeit noch ein genealogisches Grundwissen, wird die Vergangenheit zum erschreckend offenen Buch – oder zur Quelle für einen Kriminalroman.

Das Rätsel als Herausforderung

Das Erbe des Blutes wirkt zum einen durch einen dichten Plot, den der Autor trotz der verschlungenen Handlungsstränge jederzeit im Griff behält. Die reine Freude an der Lösung eines Rätsels ist eine Empfindung, die Waddell als klassischen "Whodunit" glaubhaft zu vermitteln weiß. Nicht einmal die gestressten und überarbeiteten Polizisten schließt er aus. Sie leisten ihren Job, über den sie ständig schimpfen, während er ihnen insgeheim genau diese Befriedigung verschafft, die ihnen über Geld und Ruhm geht.

Dies führt uns zur Figurenzeichnung, die mit zur Eindringlichkeit der Geschichte beiträgt. Waddell ist ein lobenswert ökonomischer Schriftsteller. Er setzt "runde", glaubhafte Personen in seine literarische Welt, ohne deren Privatleben die eigentliche Story überwuchern zu lassen (das "Elizabeth-George-Syndrom"). Charakterzüge werden dort betont, wo sie Teil des Geschehens sind. Ein Katalysator für auf diese Weise entschwafelte Krimis sollte Autorenpflicht werden!

Vor allem Nigel Barnes wirkt als Figur so plastisch, weil Waddell aus ihm keinen Dan-Brown- oder besser: Robert-Langdon-Klon macht. Er ist auf der anderen Seite trotz dicker Brille nicht der typische Bücherwurm, der als Klischee langweilt oder ärgert, weil er in der Krise unglaubwürdig über sich hinauswächst. Was Barnes in diesem Roman leistet, geschieht im Rahmen seiner Möglichkeiten.

Zeit ist relativ

Angesichts des bisher Gesagten mag es überraschen, dass Waddell seinen Krimi, der so weit in die Vergangenheit zurückgreift, in einen rasanten sowie drastischen Wettlauf mit der Zeit münden lässt. Das letzte Opfer liegt buchstäblich auf der Folterbank des Täters, während der Autor zwischendurch auf die Ermittler umblendet, die immer hektischer der sich verdichtenden Spur folgen. Hier treibt es der Verfasser nach persönlicher Ansicht dieses Rezensenten ein wenig zu weit. Allerdings betrifft dies nur den Grundton der Story, die selbst nicht unter der genannten Blutrünstigkeit leidet.

Mit Das Erbe des Blutes empfiehlt sich Dan Waddell als seltener Lese-Tipp in einem Meer von der Werbung hochgejubelter Allerwelts-Krimis. Ihn zu entdecken ist freilich schwierig, da dieser Titel hierzulande gut übersetzt aber geradezu fahrlässig unauffällig gestaltet als eines von zahllosen Taschenbüchern auf den Markt geworfen wurde.

Zudem liegen einige privat schwere Jahre hinter dem Verfasser, der deshalb die geplante Nigel-Barnes-Serie bisher nur mit einem weiteren Band fortsetzen konnte. Den würde man hierzulande gern lesen, aber offenbar hielt sich der Verkaufserfolg von Das Erbe des Blutes in Grenzen; "Blood Atonement" ist in England bereits 2009 erschienen, steht aber nicht zur deutschen Übersetzung an. Den Schwaflern geht’s dagegen gut …

Das Erbe des Blutes

Dan Waddell, Goldmann

Das Erbe des Blutes

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