Fünf Tote und kein Täter

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 1980
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  • Originalausgabe erschienen unter dem Titel „New Graves at Great Norne“

    - London : Constable & Co. 1947

    - München : Heyne Verlag 1.1.1980 (Heyne Crime Classic 1883). Übersetzung: Daisy Remus. 128 Seiten. ISBN-10: 3-453-10474-9

Fünf Tote und kein Täter
Fünf Tote und kein Täter
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Michael Drewniok
75°1001

Krimi-Couch Rezension vonApr 2021

Alte Rechnung wird mörderisch beglichen

Great Norme ist trotz des Namens eine kleine Stadt an der Ostküste Englands. Die meisten Bürger sind Fischer und Bauern, weshalb die örtliche Polizei es in der Regel mit Prügeleien und/oder exzessivem Alkoholgenuss zu tun bekommt. Schwere Verbrechen sind selten, während häusliches Unglück oder familiäre Gewalt zum Alltag gehören: Jeder weiß davon - aber so ist das halt in einem Landstädtchen kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

Als Pfarrer Theobald Torridge mit eingeschlagenem Schädel am Fuß einer steilen Hafentreppe liegt, hält man dies für einen Unglücksfall. Dass die Leiche einen kräftigen Whisky-Dunst ausströmte, behält die Polizei rücksichtsvoll für sich. Wenige Tage später liegt Kirchenvorstand Colonel Cherrington mit durchschossenem Schädel in seinem Arbeitszimmer. Nach einer spektakulär gescheiterten Aktenspekulation hat er sich offenbar umgebracht. Allerdings wirken diverse Indizien manipuliert, sodass vorsichtshalber Scotland Yard eingeschaltet wird.

Chefinspektor Myrtle beginnt mit einer systematischen Vernehmung potenziell Verdächtiger. Leider ist deren Zahl beträchtlich, während ihre Alibis schwach sind. Zu allem Überfluss werden kurz hintereinander drei weitere Bürger ermordet. Myrtle glaubt, dass sämtliche Taten von nur einem Täter begangen wurden, und vermutet ein altes Unrecht, das nun handfest gerächt werden soll.

Was ist in Great Norme einst geschehen, und welche Rollen haben die fünf Opfer dabei gespielt? Myrtle stellt fest, dass seine Verdächtigen ausnahmslos private Geheimnisse hüten, die mit den Morden zu tun haben könnten, aber nicht müssen. Für die Polizei bedeutet dies ein zähes Ringen um Informationen, während keineswegs feststeht, dass die Mordserie ihr Ende gefunden hat …

Nebel und Lügen: Ideal-Biotop für Mord

Das Böse brütet besonders erfolgreich dort, wo man es nicht erwartet - von dieser Erkenntnis zehren seit jeher Kriminalschriftsteller, die den Kontrast zwischen betont friedlicher Kulisse und drastischem Verbrechen nutzen, um unterhaltsam Buchseiten zu füllen. Great Norme ist in dieser Hinsicht ein Idealbeispiel, da Autor Henry Wade den Ort als betont gemütliches Hafenstädtchen mit Landwirtschaft im Hinterland beschreibt. Diese Kulisse besetzt er mit entsprechenden Figuren.

Fischer arbeiten hart, fluchen gern und trinken an Land noch härter; Bauern stehen ihnen in dieser Beziehung nicht nach. Gesamtheilich bilden sie einen Pool bodenständig-knorriger Gestalten, die langsam denken und sich in deutlichen Worten ausdrücken, wenn sie denn die Zähne auseinanderbekommen. Wade fügt dieser quirligen Gruppe noch weitere Archetypen  hinzu, ohne die der englische „Whodunit“ undenkbar ist: den ebenso frommen wie hohlen Pfarrer, die alte, eingebildete Jungfer, den eisenschädeligen (bzw. holzköpfigen) Ex-Militär, seinen lotterlebigen Sohn sowie mehrere, eher eifrige als innovative Polizeibeamte - obwohl Wade diesbezüglich (s. u.) für Ausnahmen sorgt.

Die begangenen Untaten sind selbstverständlich sehr abwechslungsreich. Für einen bereits 1947 entstandenen „Cozy“ fallen die Beschreibungen der Tatorte und Leichen erstaunlich detailliert und sogar ungemütlich aus. An Henry Wade war der Zweite Weltkrieg ebenso wenig spurlos vorübergegangen wie am Rätselkrimi. Recht erstaunlich ist auch der hohe Bodycount. Das hinter den Morden steckende Motiv ist vergleichsweise trivial, aber in einem Punkt gelingt Wade ein ungewöhnlicher Twist: Chefinspektor Myrtle muss sich abschließend gestehen, dass der Täter seinen Job erledigt hat, bevor man ihn fassen konnte. Wade bringt somit selbst zur Sprache, dass nicht jeder Strolch faktisch schon im Sack zappelt, sobald der (geniale) Ermittler die Szene betritt.

Kommt Zeit, kommt Festnahme - aber auch Mord

Fünf Tote und kein Täter lässt einen Serienkiller umgehen. Dieses Wort fällt nicht; es war 1947 noch nicht in aller Lesermunde und fand im „Whodunit“ keine Verwendung. Zu realitätsnahe war die zudem unbehagliche Vorstellung eines Verbrechers, der nicht im momentanen Überschwang der Gefühle tötet, sondern Menschen systematisch umbringt - und das mit einer Befriedigung, die Wade immerhin deutlich zur Sprache bringt, was in diesem den Roman abschließenden Satz gipfelt: „‚Geschafft‘, murmelte er [= der Mörder], ‚gute Arbeit.‘“

Der Plot ist wie gesagt nicht komplex; lange vor dem Finale hat Chefinspektor Myrtle herausgefunden, wer aus welchem Grund in Great Norme mordet. Für uns Leser besteht der Reiz aus dem Wissen, dass wir den Täter theoretisch bereits kennen: Er muss aus dem Kreis derer stammen, die uns Autor Wade in den Eingangskapiteln vorgestellt hat. Wie es das Genre fordert, streut er nicht nur echte Hinweise ein, sondern lotst uns auf falsche Fährten - und natürlich ist der eigentlich zwingend schuldige Verdächtige nicht der Gesuchte.

Für einen englischen Rätselkrimi ist der Auftrieb ermittelnder Polizeibeamter erstaunlich und für den Leser sogar verwirrend groß, doch Wade ist ein früher Vertreter des „police procedural“. Es dauert eine ganze Weile, bis sich Myrtle als Hauptfigur von seinen Kollegen freigemacht hat. Der Scotland-Yard-Mann ist kein Deduktions-Genie, sondern setzt auf gründliche Arbeit und daraus erwachsende Erfahrung. Insgesamt bleibt Myrtle ein Mann ohne private Eigenschaften, die für diese Geschichte ohnehin unnötig sind - man preise Ward für diese im Kriminalroman leider inzwischen in Vergessenheit geratene Konzentration auf das Wichtige!

Hinter der Fassade bzw. Maske

Als Scotland-Yard-Spezialist tritt Myrtle nicht auf, als habe es ihn unter Landeier = Deppen verschlagen; die Polizei von Great Norme ist zwar kapitalkriminalistisch unerfahren, aber weder ratlos noch eine britische Variante der „Keystone Cops“. Die Zusammenarbeit funktioniert nach anfänglicher Orientierung und gegenseitiger Einschätzung ohne Rivalitäten und trägt - wenn auch zu spät für die Opfer (s. o.) - Früchte.

Im Mittelpunkt stehen nicht die Ermittler oder der Täter, sondern die Bürger von Great Norme. Tradierte Werte werden einer Belastungsprobe unterzogen, der sie erwartungsgemäß nicht gewachsen sind. In einer Gegenwart, die von der mehrfach angemerkten Furcht vor einem neuen Weltkrieg geprägt wird, erweist sich die übliche Praxis (Skandale werden totgeschwiegen) als kontraproduktiv: Die Zeit heilt hier keine Wunden!

Fünf Tote und kein Täter erschien vor vielen Jahren in der eigentlich lobenswerten Reihe „Heyne Crime Classic“. Leider geschah dies in einer Phase, als Genre-Literatur der Seitennormierung unterworfen wurde: Nur 128 Seiten zählt die deutsche Übersetzung, während der Originaltext deutlich umfangreicher war. Man fragt sich, welche für die Handlung nicht unbedingt verständnisnötigen, aber lesenswerten Abschweifungen der Kürzung zum Opfer fielen. Mehrfach wird deutlich, dass ‚geschnitten‘ wurde, doch selbst der verbliebene Text weist Henry Wade als fähigen, unterhaltsamen Verfasser aus, von dem man gern mehr - und in voller Länge - lesen würde.

Fazit

Obwohl ein grausamer Serienkiller sein Unwesen treibt, ist dies ein klassischer Rätselkrimi, den ein genrekundiger Autor unterhaltsam, weil einerseits drastisch, aber andererseits einfallsreich und sogar witzig erzählt - in der deutschen Fassung leider nur gekürzt.

Fünf Tote und kein Täter

Henry Wade, Heyne

Fünf Tote und kein Täter

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