In die finstere Nacht

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2012
  • 4
  • New York: Lion, 1953, Titel: 'Savage Night', Originalsprache
  • München: Heyne, 2012, Seiten: 280, Übersetzt: Gunter Blank
In die finstere Nacht
In die finstere Nacht
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Tim König
95°1001

Krimi-Couch Rezension vonJan 2012

Überwältigend und neu zu entdecken - fast 60 Jahre nach der Erstveröfflichung

Es gibt grenzenlose Bücher, Bücher, die alles durchdringen und Stunden, Tage, Nächte durch den Kopf schwirren, lange nachdem man aufgehört hat zu lesen. Plötzlich erkennt man mehr als nur einen feinen, dünnen Riss im Alltag, der eigenen Persönlichkeit oder dem, was sich Gesellschaft nennt. Vieles ist auf streichholzdünnen Beinen gebaut und es braucht nicht nur William S. Burroughs, um ein Naked Lunch serviert zu bekommen.

Man kann natürlich auch Bücher lesen, um auf schöne Gedanken zu kommen. Man kann auch den Bergdoktor lesen. Man kann Bücher über Killer lesen, die im Gegensatz zu Bigelow eine schwere Kanone zücken, um zu morden , mit Kerlen in Uniform, die durch den Schlamm kriechen, die sich im Kampf beweisen müssen. Wirkliche Männlichkeit. Man kann es aber auch gut sein lassen, wenn man Jim Thompson kennt.

In die finstere Nacht reißt Oberflächen ein. Und sichtbar wird in nahezu allen Fällen die Hölle – besonders des eigenen Selbst. Carl Bigelow ist so eine sich selbst zerfleischende Hölle: er ist Profikiller, der sich in der Haut eines 1,55m großen, charmanten und jung erscheinenden Mannes befindet. Er unterstützt das brave Auftreten mit Kontaktlinsen, Gebiss und gepflegten Schuhen, denn das ist seine Methode: Unscheinbar erscheinen, der sein, dem man am wenigsten einen Mord zutraut– und nahezu unsichtbar tötet . Mit dieser Methode ist er zu einem der berüchtigsten und gefürchtetsten Killer Amerikas geworden – wirkt aber nicht wie ein professioneller Totschläger. Der Mord selbst ist bei Thompson das Einfachste – das menschliche Leben ist zu klein, zu schwach; leicht auszulöschen. Vielleicht sogar zu leicht.

Um Bigelow tänzeln Charaktere, plastisch und mit enormer Tiefenschärfe gezeichnet, begierig, ihre eigenen Dämonen zu befriedigen. Dazu gehört nicht nur der alkoholkranke Kronzeuge, der so gut wie tot ist und alle Freunde aus vergangenen Tagen verloren hat, seine Frau, eine ehemalige Sängerin, sondern auch der nette alte Mann, ein Mitbewohner, der, so spießig er auch ist, Bigelow unhinterfragt unterstützt. Das Doppelbödige an nahezu allen Vorgängen ist, dass sie kaum verwerflich scheinen. Weder Bigelow, noch die Sängerin, die sich ihm an den Hals wirft, noch der Mitbewohner handeln so, dass man es schlecht nennen könnte. Man ist ihnen nicht allzufern – die Charaktere sind auch heute noch lebendig, grüßen an der Türpforte und in sanften Alpträumen.

Dass in einer solchen Erzählung Liebe vorhanden ist, macht das Geschehen noch schmerzlicher. Doch ist das tatsächlich Liebe in "der finsteren Nacht"? Es gibt noch Ruthie, Studentin und Haushaltsgehilfin des Opfers – sie ist still, intelligent und ehrgeizig, aber sichtbar behindert – in den 50er Jahren konnte man sie getrost einen Krüppel nennen, heute ist das zwar tendenziös. Sprachlich aber ist es hier nur verkrüppelte Liebe, die existieren kann: Bei Ruthie sichtbar, bei Bigelow in der tuberkulösen Lunge. In Ruthie und Carl Bigelow finden die Höllen ihren Siedepunkt – und auch die Geschichte löst sich stilistisch auf. Man darf in diesem Buch auf Experimente gefasst sein – aber keine, die ihren Zweck in der Geschichte nicht erfüllen.

Man spürt sehr genau, wie fest Jim Thompson die Zügel der Geschichte hält und wie er gekonnt glückliche Enden imitiert, wie er den Wahnsinn in die geradlinige Story träufelt, bis aus kleinen Tropfen Lachen werden und das explosiv Absurde sich blitzlichtartig mit der zwingenden Logik eines Auftragskillers abwechselt, manchmal unscheinbar abtaut, um den Leser im vollständigen Chaos, dem Wahn, der die gekünstelte Alltäglichkeit durchdringt, zu hinterlassen. Für Optimismus mag kein Platz sein bei In die finstere Nacht, aber doch besiegelt hier jeder sein eigenes Ende, seine eigene finstere Nacht, in die er hineinsteuert.

Man kann das einen Psycho-Thriller nennen oder die komplexe Studie eines wahnsinnigen Verstandes – aber warum? Es ist ein Pfad hinein ins Ende, womöglich in den Frieden, der dramaturgisch überwältigend daherkommt. In die finstere Nacht ist nahe am Maximum der mit sprachlichen Mitteln erzeugbaren Intensität dran – und in Zeiten einer Facebook-Timeline, die den Charakter ersetzt, ist das Zerbrechen von scheinheiligen Identitäten eine Wohltat, so schmerzhaft es auch sein kann.

In die finstere Nacht

Jim Thompson, Heyne

In die finstere Nacht

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