Mord in der Klinik

  • Scherz
  • Erschienen: Januar 1949
  • 2
  • London: Geoffrey Bles, 1935, Titel: 'The nursing-home murder', Seiten: 286, Originalsprache
  • Bern: Scherz, 1949, Seiten: 207, Übersetzt: Irene Mülow
  • Bern; München; Wien: Scherz, 1983, Seiten: 157
  • München: Goldmann, 1988, Seiten: 201
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonDez 2011

Zu viele Feinde sind des Innenministers Tod

Sir Derek O’Callaghan, britischer Innenminister, ist aktuell im Doppelstress. Um den Machenschaften jener allzu rührigen Mitbürger Einhalt zu gebieten, die sich unbritisch einem revolutionären Sozialismus sowjetischer Prägung verschrieben haben, hatte er eine strenge Gesetzesvorlage ins Parlament eingebracht. Dort wurde sie just verabschiedet, was bei der Zielgruppe enormen Unmut hervorruft und Sir Derek Morddrohungen aus dem Umfeld des Agitators Nikolaus Kakarow einbringt.

Privat macht dem Politiker die Krankenschwester Jane Harden zu schaffen, die er als Geliebte fallenließ, was sie mit Zorn und Rachsucht erfüllt. Janes Chef, Dr. John Phillips, war bisher ein Freund Sir Dereks. Da er selbst in Jane verliebt ist, die ihn immer abgewiesen hat, ist dieses Band zerbrochen. Dies ist verhängnisvoll, da der Minister nun erst recht die heftigen Leibschmerzen ignoriert, für deren Behandlung er in seinem Terminkalender keinen Platz findet, bis er mit durchbrochenem Blinddarm zusammenbricht. Da niemand von dem Zwist mit Dr. Phillips ahnt, bringt man ihn in dessen Privatkrankenhaus. Lady Cicely, O’Callaghans Gattin, besteht darauf, dass Phillips Sir Derek persönlich operiert. Wenig später ist der Innenminister tot.

Lady Cicely glaubt an Mord und besteht auf einer Untersuchung, die in der Tat ergibt, dass Sir Derek mit einem überdosierten Medikament vergiftet wurde. Chefinspektor Roderick Alleyn von Scotland Yard übernimmt den Fall, der nicht nur politisch heikel, sondern auch kompliziert ist, nimmt doch die Schar der Verdächtigen stetig zu. So waren die wütenden Sozialisten in Gestalt von Schwester Blake sogar im OP zugegen. Auch die verbitterte Jane Harden war anwesend. Mit seinem Sekretär hatte Sir Derek kurz vor seinem Ende einen heftigen Streit. Ruth O’Callaghan, seine wirrköpfige Schwester, hatte ihm ein obskures Schmerzmittel aufgedrängt. Weitere potentielle Täter lassen nicht lange auf sich warten, weshalb Alleyn schließlich ein Nachspielen der Operation anordnet, in deren Verlauf sich der Mörder hoffentlich verraten wird …

Tatort Krankenhaus

1934 stieß eine neue Autorin zum Feld der englischen Kriminal-Schriftsteller. Ngaio Marsh kam zwar aus Neuseeland, doch ihre Heimatstadt Christchurch gilt noch heute als ´englischte´ Stadt der fernen Insel. Außerdem war Marsh 1928 nach England emigriert und hatte etwaiges Fehlwissen auf diese Weise ausgleichen können. Ihre Romane um den Scotland-Yard-Ermittler Roderick Alleyn fügen sich auf jeden Fall harmonisch ins zeitgenössische Krimi-Umfeld ein.

Die frühen Alleyn-Fälle sind "Whodunits" in ihrer reinsten Form. Ein Mord geschieht, der Täter war überaus geschickt, die Indizien sind daher vage und mehrdeutig. Das Opfer war rührig genug, sich den Zorn zahlreicher Personen zuzuziehen, die nun der Tat verdächtigt werden können. Die Handlung konzentriert sich auf die Rekonstruktion des tatsächlich Geschehenen, was in diesem Fall wörtlich zu nehmen ist: Im Großen Finale lässt Alleyn sämtliche Beteiligten im Operationssaal jenes Krankenhauses zusammenkommen, in dem Sir Derek sein Leben aushauchte. Erst dort klärt sich in einer geschickten, spannend dargestellten Mischung aus Beobachtung und Zufall der Tathergang.

Bis es soweit ist, müssen Spuren gesichert und ausgewertet werden, was von der Autorin wie üblich als Schnitzeljagd dargestellt wird. Die dabei fixierten Indizien stehen fest, denn auch Ngaio Marsh zeigt sich als Repräsentantin des ´fairen´ Krimi-Rätsels, das dem Leser die Chance bietet, womöglich vor aber mindestens gleichzeitig mit Inspektor Allyn den Täter namhaft zu machen. Selbstverständlich macht sie dies ihrem Publikum möglichst schwer; faktisch ist es sogar unmöglich, obwohl die OP-Vorgänge bis in kleinste Details aufgedeckt werden.

Die Verdächtigen drängeln sich

Zur Lektürefreude tragen die zunächst falsch gedeuteten Spuren durchaus bei. Der Irrtum wird im Kriminalroman nicht nur toleriert, sondern auch vorausgesetzt. Er muss jedoch interessant dargestellt werden. Marsh lässt Alleyn deshalb u. a. im Milieu zeitgenössischer Sozialisten ermitteln. Diese in England bereits vor 1900 real existierende und um 1935 zahlenstarke Gruppe wird – selbstverständlich, wie man wohl anmerken muss – dramatisch verfremdet bzw. karikiert. Aus politisch und sozial revolutionär gestimmten Systemkritikern werden bei der fest im Establishment verwurzelten Marsh einerseits staatsfeindliche Wölfe und andererseits verirrte Schafe, denen das Paradies auf einer sozialistisch gewordenen Erde vorgegaukelt wird. Folgerichtig verwendet Marsh Begriffe wie "Marxismus", "Sozialismus", "Kommunismus" und "Anarchismus" völlig differenzfrei. Es entsteht das von der Autorin gewollte Bild schäbig gekleideter, fanatischer Wirrköpfe, die in ihrer Mehrheit nie verstehen, was es mit der ersehnten "Weltrevolution" wirklich auf sich hat.

Während diese Passagen das Alter dieses Romans besonders stark herausstellen, gleicht Marsh dies aus, indem sie auch den klassischen Mordmotiven Raum gibt. Also geht es auch um Liebe, Eifersucht und Hass, enttäuschte Freundschaft oder Vertrauensbruch. Die Verdächtigen geben sich quasi die Klinke jener Tür in die Hand, hinter der Alleyn allein die Fäden allmählich zum Lösungsknoten zu schürzen vermag. Dass sich alle möglichen Erklärungen im Finale als falsch entpuppen und den Mörder ein gänzlich anderes Motiv umtrieb, gehört wiederum zum guten Ton des Rätsel-Krimis.

Handwerk über Herz

In ihrem dritten Kriminalroman ist Ngaio Marsh noch ein gutes Stück entfernt von jener Klasse, der sie es verdankt, heute (zumindest im angelsächsischen Raum) an den Seiten berühmter Autorinnen wie Agatha Christie oder Dorothy L. Sayers zu stehen. Der Plot funktioniert, doch Marsh lässt zu deutlich werden, wie sie ihn dazu bringt. Das Reißbrett wird vor allem dort deutlich, wo die Handlung um das Geschehen im Operationssaal kreist. Mehrfach wird jeder Handgriff geschildert, um zu verdeutlichen, dass der Mord an dieser Stätte eigentlich unmöglich geschehen konnte. Diese überbordende Präzision ist höchstwahrscheinlich auf die Zusammenarbeit mit dem Gynäkologen und Autoren Dr. Henry Jellett (1872-1948) zurückzuführen, der gleichzeitig für die heute interessante Schilderung des zeitgenössischen medizinischen Alltags verantwortlich zeichnet.

Marsh ist noch nicht so souverän, die Fakten auf das für die Handlung notwendige Maß zurückzustutzen. Stattdessen ist sie so gründlich, dass die Auflösung nicht wirklich zufriedenstellen kann. Sie ist nicht simpel sondern unwahrscheinlich, wobei Marsh freilich zugestanden werden muss, dass viele Rätsel-Krimis in dieser Hinsicht noch deutlich höher vom Boden der Realität abhoben.

Ebenfalls recht unreif wirkt Hauptfigur Roderick Allyn. Marsh hat ihn weniger erschaffen, sondern ihn bereits etablierten Vorbildern nachempfunden. Der finanziell auf schnöden Arbeitslohn nicht angewiesenen und sozial weit über dem gemeinen Polizei-"Plattfuß" stehende Gentleman-Ermittler bildet eine interessante Synthese: Nach dem I. Weltkrieg war die Ära des selbstzufrieden in seiner privilegierten Welt existierenden Adels vorüber. Eine neue Generation zwar blaublütiger aber mit mindestens einem Bein fest in der modernen Welt stehender Zeitgenossen suchte nach Betätigungsfeldern, auf denen sie ihren Alltagsnutzen unter Beweis stellen konnten. Vor allem in England geriet dabei die Herkunft nie wirklich in Vergessenheit. Die Gentleman-Ermittler wurden von den ´niederen´ Schichten weiterhin mit Ehrfurcht behandelt. Gleichzeitig konnten sie sich unter Ihresgleichen, in der Politik sowie in Künstlerkreisen frei bewegen, wo Titel weiterhin eine Eintrittskarte darstellten.

Offene Worte & kochende Emotionen

Erstaunlich offen äußert sich Marsh dort, wo die meisten Autoren ihrer Zeit schweigen oder zu verschämten Umschreibungen Zuflucht suchen. Männer und Frauen sind sexuelle Wesen, die darüber zwar nicht gern sprechen, ohne daraus einen Hehl zu machen. Sehr ´modern´ wirkt Lady Cicely, die sehr gut über die Mätressen ihres Gatten Bescheid weiß und seine Aktivitäten duldet, solange er Diskretion übt und den Schein wahrt. Jane Harden gibt dem offenbar eher taktisch als ehrlich zum gewünschten Ziel gelangten Sir Derek tüchtig Zunder, als sich seine Liebesschwüre als Makulatur erweisen.

Generell machen die Figuren dieses Kriminalfalls, der auch ein Drama (ohne die heutzutage üblichen seifenoperlichen Exzesse) darstellt, aus ihren Herzen keine Mördergruben. Dass die dabei zur Schau gestellten Emotionen oft altmodisch wirken, trägt zum nostalgischen Charme der Geschichte bei. Mit Mord in der Klinik wärmt sich eine Meisterin ihres Faches auf, aber bereits jetzt kann sie ihr Publikum in den Bann ziehen.

Mord in der Klinik

Ngaio Marsh, Scherz

Mord in der Klinik

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