Die Kiez-Trilogie

  • Pendragon
  • Erschienen: Januar 2011
  • 0
  • Bielefeld: Pendragon, 2011, Seiten: 729, Originalsprache
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Jochen König
88°1001

Krimi-Couch Rezension vonNov 2011

The future's uncertain, and the end is always near - Let it roll, baby, roll

 

GMBH, Nutella, Hamburger Jungs: Diese Namen stehen für die bekanntesten Zuhälterkartelle auf Hamburgs Reeperbahn. Seit den 70er Jahren waren es schillernde Kiez-Größen wie der schöne Mischa oder Lamborghini-Klaus, die mit Luxuskarossen, Goldkettchen und jeder Menge Frauen unter ihren Fittichen das Bild des berühmten Amüsierviertels prägten. Heute gibt es nicht mehr den oder die Könige von St. Pauli - den Zuhälterkuchen teilen sich Ganoven und Gauner aus aller Herren Länder. (Der Tagesspiegel, 19.07.2007)

 

Frank Göhres "Kiez-Trilogie" beginnt mit dem brutalen Mord an einer Prostituierten und endet mit der Hinrichtung zweier mutmaßlicher Doppelmörder. Dazwischen stehen drei Romane, die sich an einem der spektakulärsten Kriminalfälle in der Geschichte der Bundesrepublik orientieren. 1986 erschoss der Auftragsmörder Werner "Mucki" Pinzner in der Haft den ermittelnden Staatsanwalt, dann seine Frau und sich selbst. Bei Göhre heißt Pinzner Karl "Zappa" Weber und taucht leibhaftig erst im dritten Band Der Tanz des Skorpions auf. Doch seinen Schatten wirft er schon vorher. Wie mit der Ermordung des "Samurais" Franz Auer, die eine Art Initialzündung für die folgenden Macht- und Revierkämpfe auf St. Pauli darstellte. Wo sich vorher das, an die reale GMBH angelehnte, LUNA-Quartett mit dem Paten vom Kiez Werner "Emma" Stobbe um Einvernehmlichkeit bemühte, steht plötzlich ein kalt planender Geist, der die Mär vom gemütvollen Pack, das sich schlägt und verträgt ad absurdum führt. Doch auch der ist nur ein vergänglicher Vorbote dessen, was den Kiez in den nächsten Jahrzehnten heimsuchen und verändern wird. "1990" steht am Ende des Skorpiontanzes. Zappas letzter Hit wird die Trilogie 2006 noch um ein weiteres Kapitel bereichern.

Frank Göhre traut sich was. Er fordert seine Leser, wirft ihnen Happen vor und sagt: "Jetzt beißt zu". Seine Romane bersten über: vor Wechseln der Erzählperspektive und unterschiedlichen –weisen. Es gibt dicht gedrängte assoziative Passagen, Seiten voller Dialoge, Zeitungsartikel, Drehbuchentwürfe und (Pseudo)-Dokumentarisches. Göhre reißt den Kiez in Fetzen, nimmt ihm die jämmerliche Betulichkeit des "Großstadtreviers", gibt dem dicht verwobenen Filz einen Namen, lässt ihn fallen und nur noch im Hinterkopf des Lesers weiter existieren. Real existierende Persönlichkeiten tauchen auf: Völker Schlöndorff, Horst Frank und der unvermeidliche Jürgen Roland, der so gerne mit seiner Hamburg/St. Pauli-Verbundenheit protzte und so zur Verklärung beitrug.

Die "Kiez-Trilogie ist nicht nur eine Momentaufnahme bundesrepublikanischer Wirklichkeit – zweifelt wirklich jemand daran, dass die Hamburger Politiker wussten, wer in ihrer Stadt das Sagen hat? Dass dort, wo Geld ist und Geld vor allem bewegt wird, auch Macht sitzt? Klaus von Dohnanyi verweigerte sich dem zumindest bis ins beginnende 21. Jahrhundert:

 

Bei den Recherchen zu diesem Kriminalfall fragte Hamburgs ehemaliger Erster Bürgermeister Klaus von Dohnanyi die Autorin Danuta Harrich, was denn dieser Fall mit der Hamburger Politik zu tun gehabt haben soll. Er lehnte auch 16 Jahre nach den Morden noch jede Stellungnahme zu dem Thema vor der Kamera ab. Sein Parteikollege Rolf Lange, der 1986 wegen dieser Bluttat sein Amt als Innensenator aufgeben musste, spricht dagegen über die skandalösen Hintergründe der Tat und die politischen Konsequenzen. Auch seine Kollegin, die Justizsenatorin Eva Leithäuser, musste zurücktreten. (30.09.2002. Der St. Pauli-Killer (NDR))

 

– sondern auch ein weitverzweigter Blick in das Leben, die Träume und Hoffnungen seiner Protagonisten. Seien es die drei ermittelnden Polizisten Broszinski, Fedder und Gottschalk, die sich in verändernden Gegebenheiten und schwierigen persönlichen Befindlichkeiten treffen und gelegentlich verloren gehen. Wie Mitch, der Beweise für die Verwicklungen hochrangiger Polizeidienstgrade ins organisierte Verbrechen hat, sich aufs Abstellgleis geschoben sieht, um als versoffener Privatermittler die Ereignisse voran zu treiben und im Abschluss der Trilogie überhaupt nicht mehr vorzukommen.

Oder all die Frauen, die die drei Romane bevölkern. Wesentlich stärker, ideen- und fantasiereicher als ihre männlichen Kompagnons. Aber auch immer anfälliger ausgenutzt und missbraucht zu werden. Weil es ihnen von Kindesbeinen an beigebracht wurde.

Frank Göhre ist ein Meister des Stakkatos. Kurze, prägnante Sätze. Das Wilde im Auge des Feindes. Gesehen und ausgemerzt. Kunstvoll durch seine scheinbare Unmittelbarkeit. Assoziationen freisetzend. In einem kurzen Absatz ganze Geschichten erzählt. Cinematographische Fokussierung. Das Denken und weitere Verfolgen dem Leser überlassend.

Der Tod des Samurai hat bereits eine Einzelkritik auf diesen Seiten erfahren. Ich folge dem geschätzten Kollegen Kijanski mit seiner 45°-Wertung diesmal überhaupt nicht. Göhres Kaleidoskop eines sich verändernden Machtgefüges, die verzweifelte Suche seiner Protagonisten nach persönlicher Erlösung, fast beiläufig und ohne jeden Hang zu Plakativität entwickelt, gehört zum Besten, was Deutschland literarisch zu bieten hat. 200 Seiten, kein Wort zu viel. Das ein oder andere zu wenig? Vielleicht. Aber zum Selbst-Teilhaben gibt es kaum etwas Besseres.

Die Kiez-Trilogie

Frank Göhre, Pendragon

Die Kiez-Trilogie

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