M wie Mafia

  • Kindler
  • Erschienen: Januar 2009
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  • Mailand: Mondadori, 2007, Titel: 'Voi non sapete: gli amici, i nemici, la mafia, il mondo nei pizzini di Bernardo Provenzano', Seiten: 212, Originalsprache
  • Reinbek bei Hamburg: Kindler, 2009, Seiten: 222, Übersetzt: Moshe Kahn
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2010, Seiten: 222, Übersetzt: Moshe Kahn
M wie Mafia
M wie Mafia
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Jörg Kijanski
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonSep 2009

Ein Lexikon über Bernardo Provenzano, den Boss aller Bosse

Eine kleine Anmerkung vorab. Das neue Werk von Italiens Starautor Andrea Camilleri ist kein weiterer Roman mit Commissario Salvo Montalbano, sondern ein Buch über die "ehrenwerte Gesellschaft". Genauer gesagt über Bernardo Provenzano, den capo dei tutti capi, den "Boss aller Bosse", geboren in Corleone einer Stadt in der Provinz Palermo.

Bei seiner Verhaftung im Jahr 2006 fanden die Polizisten über 200 Pizzini, kleine Zettel, mit deren Hilfe er mit seiner Umwelt kommunizierte. In eine Vielzahl dieser pizzini hatte Camilleri Einblick nehmen dürfen und von diesen ausgehend sein neues Buch in Form eines Lexikons geschrieben. Von A wie Abschrift bis Z wie Zichoriengemüse (Provenzanos Lieblingsgemüse) finden sich rund 60 Stichworte, die in ihrer Gesamtheit einen komplexen Einblick in das Leben des Mafiabosses aber vor allem in das System der Mafia selbst geben. Doch warum benutzt einer der einflussreichsten Männer Italiens einfache Zettel, um mit seinen Leuten Kontakt zu halten? Ganz einfach, es war schlichtweg die sicherste Methode, um nicht von der Polizei verfolgt zu werden und, da alles schriftlich festgelegt wurde, gab es auch keine Zweifel an deren Aussagekraft. Apropos, Provenzano gab übrigens nie Befehle, sondern teilte immer nur seine "Meinung" mit, wenngleich dies natürlich faktisch einem Befehl gleichkam. Der Satz "Hiermit teile ich dir das mit" bedeutete sinngemäß nichts anderes als "Hiermit ordne ich an".

Aufstieg zum Mafiaboss

Im Jahr 1958 wurde Michele "Unser Vater" Navarra, der damalige Pate der Corleonesi, ermordet und sein Gegenspieler Luciano Liggio wurde sein Nachfolger. Dieser hatte den Mord an Navarra veranlasst und sich an der Tat auch selbst beteiligt. Anschließend gab es einen brutalen Krieg, in dem Liggio und seine Anhänger Navarras Gefolgsleute nach und nach eliminierten. Liggios bevorzugter Killer war Provenzano (Liggio: "Er schießt wie ein Gott."), dem über 50 Morde zugeschrieben werden. Am 10. September 1963 beteiligte sich Provenzano an einem Überfall auf einen der letzten verbliebenen Gefolgsleute von Navarra und verschwand anschließend für immer im Untergrund.

1974 konnte Liggio verhaftet werden und bestimmte Salvatore "Toto" Riina und Provenzano zu seinen Nachfolgern. Riina sollte der neue Boss der Corleoneser werden, Provenzano sein Stellvertreter. 1981 und 1982 stiegen bei einem weiteren Mafia-Krieg, bei dem Hunderte Mafiosi starben, die Corleonesi zur führenden Mafia-Familie in Sizilien auf. Im Januar 1993 wurde Riina - unter anderem wegen des Attentates auf Giovanni Falcone (eine der Symbolfiguren für den Kampf gegen das organisierte Verbrechen) - verhaftet. Nach einem kurzen "Gastspiel" von Leoluca Bagarella, Riinas Schwager, wurde dann Mitte der 90er Jahre Provenzano zum Chef der Corleonesi und damit de facto zum Chef der Cosa Nostra (ital. "Unsere Sache").

"Der Traktor" verändert die Mafia

Nach dem Mord an dem Mafia-Boss Michele Cavaio im Jahr 1969 erwarb sich Provenzano den Beinamen "der Traktor", einer, "der gnadenlos voranrollt, keinen Grashalm stehen lässt und seine ganze Umgebung platt macht". Und ausgerechnet dieser Traktor, einer der gefährlichsten und skrupellosesten Mafiakiller aller Zeiten, ändert später die Politik der Mafia in geradezu revolutionärer Weise. Es soll nämlich Schluss sein mit all dem Töten, das Unternehmen soll vielmehr - nach außen völlig abgeschottet - wie ein U-Boot laufen und das mit höchstmöglichem Tiefgang, damit die Geschäfte nicht gestört werden. Diese dürften in Sizilien bis in die allerhöchsten Kreise von Gesellschaft, Politik und Justizbehörden geführt haben, denn anders lässt es sich wohl kaum erklären, dass der meistgesuchte Mafiosi Italiens über 40 Jahre im Untergrund leben konnte. Verhaftet wurde er übrigens in einem Haus, das nur knapp zwei Kilometer von seiner Heimatstadt Corleone entfernt lag.

Der lange Weg der Pizzini

Ein Pizzino ist wie schon gesagt ein Zettel, der, mehrmals gefaltet, letztlich so klein wird, dass man ihn unauffällig bei einem Handschlag weitergeben kann. Nicht selten wurde er in ein Kleidungsstück eingenäht, beispielsweise in eine Unterhose, die von der Ehefrau zuhause dann gereinigt wurde. So funktionierte die Kommunikation in die Gefängnisse hinein und von dort hinaus. Anders als ein Handy oder andere moderne Kommunikationsmittel hatten die pizzini auch den Vorteil, dass man sie nicht ordnen konnte und Alternativen wie Brieftauben und ähnliches kamen ohnehin nicht in Betracht, da Provenzano über Jahre hinweg oftmals seine bescheidenen Unterkünfte plötzlich wechseln musste. Die pizzini wurden übrigens mit Ordnungszahlen versehen, die den jeweiligen Adressaten benannten. Dass dabei die "1" für Provenzano stand verwundert nicht, allerdings überrascht der Umstand, dass die Ermittlungsbehörden bis heute nicht alle Nummern zuordnen können. Von dem Erfinder des Systems, Provenzano, ist indes keine Hilfe zu erwarten, da dieser bis heute gegenüber den Behörden schweigt. In der "ehrenwerten Gesellschaft" nennt man dies das "Gesetz der Omerta", bei uns heißt es einfach "Schweigen ist Gold".

Ein Armutszeugnis für die Ermittlungsbehörden.

Immer wieder stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass der meistgesuchte Verbrecher des Landes über Jahrzehnte nicht aufgegriffen werden konnte. Zuletzt wurde ihm vermutlich ein simpler Müllsack zum Verhängnis, der das Haus seiner Lebensgefährtin verlies, aber nicht, wie zu vermuten gewesen wäre, in einer nahe stehenden Mülltonne verschwand, sondern von mehreren Personen tagelang durch die Gegend gefahren wurde bis er an seinem Bestimmungsort, Provenzanos Unterschlupf, ankam. Da die Polizei die Lebensgefährtin wie auch zahlreiche andere Personen überwachte, zog sich die Schlinge immer enger. Ein Wunder nur, dass diese simple Methode nicht schon früher praktiziert wurde. Vierzig Jahre ohne Erfolg?

Allerdings hatten die Ermittler ein Handicap (sieht man großzügig davon ab, dass einflussreiche Persönlichkeiten Provenzanos Verhaftung mehrmals verhinderten), da es von dem Gesuchten nur ein einziges Foto aus dem Jahr 1959 gab.

Camilleris Lexikon ist unterhaltsam und kurzweilig geschrieben, zumal die einzelnen Kapitel nur selten mehr als zwei Seiten umfassen. Paradoxerweise ist ausgerechnet das Kapitel zu "M wie Mafia" das Kürzeste, so dass es hier in voller Länge wiedergegeben wird:

MAFIA. Von diesem Wort findet sich in Provenzanos pizzini nicht die geringste Spur. Keine Spur auch in den pizzini, die er empfangen hat. Das ist - mit Verlaub gesagt - so ähnlich, als würden der FIAT-Vorstand und die FIAT-Vertragshändler in ihren Geschäftsbriefen niemals das Wort FIAT erwähnen.

Wer jetzt am Thema "Geschmack" gefunden hat, der greife unbedenklich zu und lese auch von John Dickie Cosa Nostra - Die Geschichte der Mafia.

M wie Mafia

Andrea Camilleri, Kindler

M wie Mafia

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