Der Gott von Bombay
- Aufbau
- Erschienen: Januar 2006
- 4
- Berlin: Aufbau, 2006, Seiten: 796, Übersetzt: Barbara Heller und Kathrin Razum, Bemerkung: 1. Teil
Indische Farben
Im Oktober 2006 veröffentlichte die Nachrichtenagentur Reuters die Meldung, dass die Behörden der indischen Stadt Aurangabad beschlossen haben, alle Gebäude der Stadt rosa zu streichen. Ziel der Aktion sei es, durch die beruhigende Wirkung des zarten Farbtons eine positive Stimmung unter den rund 150.000 Bewohnern zu schaffen und dadurch die von Kastenkämpfen und Korruption, Erpressung und Entführungen geplagte Stadt zu befrieden.
Was in einer Stadt von der Größe Aurangabads mit Hilfe von Farbpsychologie vielleicht gerade noch machbar ist, wird unmöglich in einem pulsierenden Moloch wie Bombay, wo nach ungefähren Schätzungen 15 Millionen Menschen leben. Unter ihnen Sartaj Singh, eine Hauptfigur aus Vikram Chandras epischem Kriminalroman über die Anatomie des modernen Indien.
Singh, jenseits der 40 und geschieden, ist Sikh und Polizei-Inspektor wie sein Vater, jedoch weniger selbstsicher als dieser. Selbstzweifel und Melancholie nagen an ihm, er weiß, dass seine Karriere ihren Höhepunkt bereits überschritten hat. Anders als seine aufstrebenden Kollegen hat der moralisch geradlinige Singh bislang nie die systemüblichen Bestechungsgelder kassiert, nach der Scheidung von seiner wohlhabenden Frau ist er jedoch darauf angewiesen. Auch bei Verhören von Verdächtigen passt sich Singh dem System an, Gewalt, ob angedroht oder ausgeübt, setzt er wie seine Kollegen als wirksames Mittel zum Zweck ein.
Eine Chance, seiner Laufbahn neues Leben einzuhauchen, sieht Singh, als er einen unbezahlbaren Tipp bekommt: der legendäre Gangsterboss Gainesh Gaitonde ist in der Stadt und hat sich in einem bunkerartigen Haus verschanzt. Um die Betonburg zu knacken, bedarf es schweren Geräts, und bis es eintrifft, bewacht Singh den Ausgang. Über die Gegensprechanlage unterhält er sich mit Gaitonde, zuerst über Religion, dann rollt der berühmt-berüchtigte Pate von Bombay seine gesamte Lebensgeschichte auf. Als die Bulldozer anrücken, erschießt er sich und die Frau, die bei ihm ist. Singh erhält vom indischen Geheimdienst den Auftrag, die Hintergründe für Gaitondes seltsames Verhalten herauszufinden.
Indische Flüche
Chandra, das klingt fast wie Chandler. Und so wie die Werke des amerikanischen Krimi-Autors mit der Farbe Schwarz assoziiert werden, so düster nehmen sich Chandras Hauptfiguren Singh und Gaitonde aus: Beide sind desillusioniert bis verbittert, sie ähneln sich in ihrem aussichtslosen Streben nach Glück und Integrität. Dieser opulente Roman aus Indien bietet aber mehr als Bombay Noir, er ist gleichzeitig ein elaboriertes reportagehaftes Sittenbild der von Religion und Korruption bestimmten indischen Gesellschaft.
Vikram Chandra verschachtelt die Rahmenhandlung, in der Singh ermittelt, mit der vor Vitalität nur so summenden Lebensbeichte von Gangsterboss Gaitonde und spannt dabei einen zeitlichen Bogen von der noch jungen indischen Republik, als Gaitonde seine kriminelle Laufbahn einschlug, bis in die 1990er Jahre. Die notwendigen Schnitte in der Szenenfolge sind oft abrupt, aber jederzeit nachvollziehbar, denn Chandra hat seine Handlung im Griff. Die faszinierende Geschichte von Singh und Gaitonde wird übrigens fortgesetzt in Bombay Paradise.
Wer schon immer auf Hindi fluchen wollte, dem wird das umfangreiche Glossar des Romans eine Fundgrube sein. Spätestens beim Nachschlagen von Wörtern wie "bhenchod" und "maderchod" wird dem Leser klar, dass es nicht reicht, Häuser rosa anzustreichen, um die Verbrechensrate zu senken. Nicht in Indien und auch nicht anderswo.
Vikram Chandra, Aufbau
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