Blinder Passagier

  • Hoffmann & Campe
  • Erschienen: Januar 2001
  • 26
  • New York: Putnam, 1999, Titel: 'Black Notice', Seiten: 415, Originalsprache
  • Hamburg: Hoffmann & Campe, 2001, Seiten: 430, Übersetzt: Anette Grube
  • Augsburg: Weltbild, 2002, Seiten: 430
  • München: Goldmann, 2003, Seiten: 444
  • Hamburg: Hoffmann & Campe, 2013, Seiten: 443
Blinder Passagier
Blinder Passagier
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Michael Drewniok
70°1001

Krimi-Couch Rezension vonSep 2003

Eine heterogene Mischung aus Thriller, Mystery und Seifenoper

Noch immer ist Dr. Kay Scarpetta, Leiterin des Gerichtsmedizinischen Instituts von Virginia, einem der Südstaaten der USA, psychisch angeschlagen, nachdem ihr Lebensgefährte, der FBI-Agent Wesley Benton, im Vorjahr einem grausamen Mordanschlag zum Opfer fiel. Sie hat sich in die Arbeit geflüchtet, ist aber nur mit halbem Herzen bei der Sache, vernachlässigt ihre Familie, die allerdings ohnehin nur aus ihrer labilen Nichte Lucy besteht, und Freunde wie den altgedienten Haudegen Pete Marino von der Mordkommission der Kriminalpolizei von Richmond, der Hauptstadt Virginias.

Geradezu beflügelnd wirkt Scarpettas Schleifenlassen der Zügel dagegen auf ihre Feinde, die wie immer zahlreich sind, um die unnachgiebige, wenig diplomatische und im Dienste ihrer pathologischen Sache keine Kompromisse duldende Powerfrau aus ihrem Amt zu kegeln. Ein neuer und besonders grotesker Mordfall lässt Scarpetta endlich aus ihrer Lethargie erwachen. Im Hafen von Richmond hat man auf dem Frachtschiff "Sirius" in einem Container eine stark verweste Leiche gefunden, die dort offenbar die Reise vom belgischen Antwerpen in die Vereinigten Staaten angetreten hat. Eine seltsame Schrift wird am Tatort gefunden: "Bon voyage, le loup-garou" - diese "Gute Reise" wünscht scheinheilig ein Mörder, der sich selbst den "Werwolf" nennt.

Die Ermittlungen gestalten sich schwierig, denn von Dr. Scarpetta unbemerkt herrscht nun Diane Bray als neuer Deputy Chief über die Kriminalpolizei von Richmond. Die eiskalte Aufsteigerin arbeitet an einer Karriere, die sie bald auf einen Ministerstuhl führen soll. Sie radiert systematisch jene aus, die ihr dabei in die Quere kommen könnten, und bereitet u. a. die Übernahme der Gerichtsmedizin durch das von ihr ins Auge gefasste Ministerium für Öffentliche Sicherheit vor, um Scarpetta, die Bray als ernste Konkurrenz betrachtet, in naher Zukunft vor die Tür setzen zu können.

Bray stört und sabotiert die Untersuchung des Container-Mordes, doch die eigenen Schwierigkeiten werden fast zur Nebensache, als Interpol, die übernationale Einrichtung der europäischen Polizei, Scarpetta dringend einlädt, nach Paris zu kommen. Dort ist der "Werwolf" ein alter Bekannter - ein sadistischer Serienmörder, der zudem alle Voraussetzungen erfüllt, als Monster der Woche in die " X-Akten" einzugehen, ist er doch aufgrund eines seltenen genetischen Defektes nicht nur missgestaltet, sondern vom Kopf bis zu den Füßen mit einem dichten Fell bedeckt ...

Man sollte meinen, dass so ein Geschöpf nicht lange auf freiem Fuß bleibt, aber so einfach ist die Sache nicht: Der "Werwolf" gehört einem uralten und mächtigen Verbrecherclan an und wurde bisher von seiner Familie gedeckt. Doch nun gerät er außer Kontrolle, hat den eigenen Bruder umgebracht und ist in die Vereinigten Staaten gewechselt, wo er in immer kürzeren Abständen und unerhört brutal zu morden beginnt - ein nur scheinbar zielloser Amoklauf, da der "Werwolf" eine irritierende Rolle in Diane Brays Intrigenspiel zu spielen scheint. Allerdings hätte schon der Blick auf einige Hollywood-Horror-Klassiker die ehrgeizige Polizeichefin warnen können, dass sich die Monster dieser Welt niemals sehr lange kontrollieren lassen ...

Der zehnte Band der immens erfolgreichen Krimi-Serie um die Pathologin Kay Scarpetta entfaltet seinen eigentlichen Unterhaltungswert, sobald man sich als Leser/in mit der Tatsache angefreundet hat, dass Patricia Cornwell nun endgültig den Boden des sachlich Nachvollziehbaren verlassen hat. "Blinder Passagier" ist ein Mystery-Thriller fast reinen Wassers, der indessen unter der Scham seiner Verfasserin leidet, die Verbindungen zur "alten", primär im Labor beheimateten Scarpetta gänzlich zu kappen.

Der Spagat misslingt, muss misslingen, denn wie ließen sich wohl ein geistesgestörter Wolfsmensch, der des Nachts in der Seine schwimmt (oder vielleicht mit dem Glöckner von Notre-Dame und dem Phantom der Oper einen heben geht) und jene meuchelt, die in ihm nur das Monster sehen, und die High-Tech-Helden der Gerichtsmedizin des 21. Jahrhunderts in Einklang bringen? Ja, es wird offensichtlich allmählich schwierig für Patricia Cornwell, sich neue Fälle für ihre Helden auszudenken. Die Geister, die sie selbst einst rief, wird sie inzwischen nicht mehr los; seit Kay Scarpetta 1990 ihre Laufbahn begann und sogleich ein wachsendes Publikum mit ihren ebenso schauerlichen wie faszinierenden Abenteuern fesselte, fiel eine Legion mehr oder weniger geistreicher Epigonen über die Leichenhallen dieser Welt her und bemüht sich, einander durch immer bizarrer und scheusslicher werdende Detailarbeit zu übertrumpfen. Auch Cornwell legt sich wieder tüchtig ins Zeug. Zwar erreicht sie auch dieses Mal nicht den Ekel-Faktor der unvergesslichen "Body Farm" (1994, dt. Das geheime ABC der Toten), aber trotzdem lernt der Leser womöglich mehr über die wundersame Welt der Verwesung als ihm oder ihr lieb ist. Nun, Mensch, bedenke, dass du nur Staub bist ... Das sollen wir braven Christenmenschen uns ja stets vor Augen führen, um dadurch allzu weltlichem Ehrgeiz die Spitze zu nehmen. Wer diesen Weg einschlagen möchte, dem verschafft Cornwell genug Stoff zum Nachdenken!

Der Plot als solcher ist - es klang weiter oben bereits an - absolut hanebüchen. Daran ändert der Kulissenwechsel nach Paris wenig, der indes interessante Einblicke in die Geisteswelt des typischen Amerikaners - hier kongenial verkörpert durch den raubauzigen Pete Marino, der inzwischen endgültig zur Karikatur des harten, desillusionierten Bullen mit dem weichen Herzen (oder Keks) zu verkommen droht - ermöglicht. Unheimliches sucht die Vereinigten Staaten auch im dritten Jahrtausend primär aus dem Ausland heim, wobei streng geschieden wird zwischen Monstern aus Europa und Terroristengesindel aus dem Nahen Osten. Stets ist verdächtig, wer nicht den Gesetzen und Gebräuchen der USA unterworfen ist, eine fremde Sprache spricht und schamlos in der Öffentlichkeit rauchen darf. Die Unsicherheit in einem fremden Land wird sogleich kaschiert durch großspuriges Auftreten und offensiven Patriotismus - eine interessante, wohl auch zu verallgemeinernde Lektion, die uns Cornwell hier ganz nebenbei (und sicherlich unfreiwillig) vermittelt.

Viel besser als der eigentliche Kriminalfall gelingt Cornwell ein zweiter Handlungsstrang, der eine der schlimmsten sozialen Entgleisungen der Moderne thematisiert: Mobbing am Arbeitsplatz. Besonders seit der Erfindung des Internets ist Rufmord für den technisch einigermaßen Versierten erschreckend einfach geworden. Cornwell entwirft ein ebenso spannendes wie überzeugendes Intrigenspiel um Macht und Einfluss, hinter dem der arme "Werwolf" arge Mühe hat, sich als Bösewicht zu behaupten.

Weiterhin gilt außerdem, dass alles in Ordnung ist, sobald Dr. Scarpetta das Skalpell ergreift und an die Arbeit geht. Hier schlagen Cornwells Recherchen sogleich positiv auf die Handlung durch. Immer neue Tricks und Kniffe lässt sich die Wissenschaft in ihrem Kampf gegen das Verbrechen (klingt ein wenig pathetisch, ich weiß) einfallen. Hat man sich einen Sinn für solche eher technischen Finessen bewahrt (und das sollte man, wenn man zu einem Scarpetta-Roman greift), kommt man nach wie vor auf seine Kosten. "Blinder Passagier" lässt auf dieser Wie-wird´s-gemacht?-Ebene jedenfalls keine Wünsche offen.

Aller Spaß ist allerdings vorbei, sobald Scarpettas Nichts Lucy auf der Bildfläche erscheint. Sie muss als Cornwells Alter Ego stellvertretend für ihre geistige Mutter durchmachen, was eine selbstbewusst-selbstständig-lesbische Frau in einer gegen alle drei Eigenschaften eher feindlich eingestellten Welt erfährt. Dagegen ist nichts einzuwenden, so lange es sich harmonisch in die Handlung fügt. Aber hier geht Cornwell leider seit jeher das Herz auf; Konfrontationen zwischen Tante und Nichte entwickeln sich stets zu wortlastigen und tränenreichen "Du verstehst mich nicht"-"Ich will doch nur Dein Bestes"-Debatten, die sich endlos im Kreise drehen, einfach nur langweilen und schließlich für Verdruss sorgen. Die neurotische Lucy wird die Gunst des Publikums auch nicht dadurch erringen, dass Cornwell sie nun zur labilen Revolverheldin stilisiert: Sie ist und bleibt eine Nervensäge, auf die man gern verzichten würde.

"Blinder Passagier" ist überreichlich mit solchen Seifenoper-Elementen durchsetzt, weil sich Scarpetta (wenig überzeugend) auch noch mit ihrer Trauer um den verblichenen Geliebten auseinandersetzen und obendrein auf den eifersüchtigen Marino aufpassen muss. Ach ja: Einen neuen Lover angelt sich Scarpetta dennoch, aber auf dass der seifige Konfliktstoff für zukünftige Verwicklungen nicht ausgehe, ist dieser nicht nur ein halber Europäer (Achtung: Dekadenz-Gefahr! - s. o.), sondern auch noch deutlich jünger.

Das Finale verrät das Dilemma, mit dem Cornwell rang, als es darum ging, den "Werwolf" seiner gerechten Strafe zuzuführen. Hier war die Gefahr bedrückend groß, in allzu ausgefahrene Geleise zu geraten, denn das Monster muss natürlich sterben - am besten kurz nachdem wir erfahren haben, dass es durchaus menschliche Züge trägt und darob gebührend erschüttert sind. Cornwells Auflösung des Dramas verrät erneut die Angst vor der eigenen Courage. Zwar kommt es (wider alle Wahrscheinlichkeit) zur Konfrontation zwischen Scarpetta und dem "Werwolf" (auch dunkel ist´s und stürmisch) , aber dann siegt das Mitleid, und die arme, missverstandene Kreatur (die zu diesem Zeitpunkt längst in ihrer eigenen Geschichte überflüssig geworden ist) darf überleben. Das ist so unbeholfen in Szene gesetzt, dass es nicht tragisch, sondern nur albern wirkt. Bleibt noch das kollektive In-die-Arme-Fallen der Überlebenden, gekrönt vom Verzeih´-mir-dass-ich-so-ein-rücksichtsloser-Mensch-war!-Ritual.

Fazit: "Blinder Passagier" ist eine heterogene Mischung aus Thriller, Mystery und Seifenoper, durchaus unterhaltsam und spannend, aber überfrachtet mit drögen zwischenmenschlichen Konfliktchen, die immer wieder auf das Tempo drücken und die eigentliche Handlung zu ersticken drohen.

Blinder Passagier

Patricia Cornwell, Hoffmann & Campe

Blinder Passagier

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