Das Wittgenstein-Programm

  • Wunderlich
  • Erschienen: Januar 1994
  • 4
  • London: Chatto & Windus, 1992, Titel: 'A Philosophical Investigation', Seiten: 330, Originalsprache
  • Reinbek bei Hamburg: Wunderlich, 1994, Seiten: 416, Übersetzt: Peter Weber-Schäfer
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1995, Seiten: 410
  • Augsburg: Weltbild, 1999, Seiten: 410
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2000, Seiten: 410
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2003, Seiten: 410
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2010, Seiten: 410
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Jörg Kijanski
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonNov 2003

Das meint Krimi-Couch.de:

Großlondon im Jahr 2013: Bei New Scotland Yard streiten sich Chefinspektorin Isidora "Jake" Jakowicz und ihre Kollegen darüber, welchem Serienmörder das jüngste Opfer, die 25-jährige Mary Woolnoth zuzurechnen ist. Sie wurde mit einem Hammer erschlagen und ihr nackter Körper mit obszönen Ausdrücken beschmiert. Gleich drei Täter scheinen in Betracht zu kommen: Der "Hammermörder von Hackney", "Der Lippenstiftmörder" und der "Motorradbote". Zunächst verständigt man sich darauf, dass Jake, die die Ermittlungen im Fall des "Lippenstiftmörders" leitet, auch den Fall Woolnoth übernimmt.

Am nächsten Tag nimmt Jake an einem Symposium in Frankfurt teil und trifft dort in einer anschließenden Besprechung ihren Chef, Polizeidirektor Gilmour, Staatssekretärin Miles sowie deren Assistenten

Woodford. Während der Besprechung erfahren sie aus London, dass es einen weiteren Mord gegeben hat. Diesmal wurde ein Mann in Birmingham, dem Wahlkreis von Miles', erschossen. Sie bittet Gilmour Jake mit der Ermittlung zu beauftragen. Mit Hilfe des sog. Lombroso-Programmes zur Verbrechensbekämpfung stellt sich heraus, dass das Opfer - ein Mann namens Hill - von demselben Täter umgebracht wurde, der in den letzten acht Monaten bereits acht weitere Menschen mittels einer Gasdruckpistole ermordet hat.

Überhaupt scheint das Lombroso-Programm eine wichtige Rolle zu spielen. Das von Prof. Gleitman geführte Gehirnforschungsinstitut hat in den letzten zwei Jahren über 4 Millionen Männer mit einem Apparat dahingehend überprüft, ob deren Gehirn der sog. ventromediale Kern (kurz: VMK) fehlt. Alle Probanten die VMK-negativ getestet wurden gelten danach als "potentielle Psychopathen", die voraussichtlich irgendwann

einmal schwere aggressive Verhaltensstörungen entwickeln werden und werden deshalb in einer Datei erfasst. Um die getesteten Personen zu schützen, erhalten sie im Lombroso-Programm einen Decknamen von berühmten Persönlichkeiten. Da auch Hill und die vor ihm ermordeten Männer alle VMK-negativ getestet wurden, drängt sich Jake der Verdacht auf, dass es dem Täter gelungen sein muss, sich in das Programm einzuhacken, vermutlich um seinen eigenen Namen aus der Datenbank zu löschen. Möglicherweise will er nun die potentiell gefährlichen Männer umbringen, bevor diese selber zu Mördern werden können und damit das Lombroso-Programm "logisch fortführen".

Nachdem ein weiterer Teilnehmer des Lombroso-Programmes tagsüber in der Tate-Gallery erschossen wird, bittet Jake den Computerspezialsten Yat Chung, ihrem Verdacht nachzugehen, und den Lombroso-Computer zu überprüfen. Chung entdeckt wenig später, dass sich der Täter von außerhalb Zugang zum System verschafft haben muss, doch als er kurz davor steht dessen Identität zu entschlüsseln, stößt er auf eine sog. Logikbombe, die der Täter im Computer hinterlassen hat und die umgehend weite Teile des Systems zerstört. Allerdings konnte Chung noch den Decknamen der getesteten Person herausfinden: Ludwig Wittgenstein...

Die englische Originalausgabe erschien bereits im Jahr 1992 was insoweit von Belang ist, da die Geschichte im Jahr 2013, also in mittlerweile nicht mehr ganz so ferner Zukunft spielt. Geschickt greift Kerr vereinzelte Themen auf, die bereits heute von Politikern eifrig diskutiert und vermutlich in den nächsten Jahren Realität werden. Als Beispiel sei die aktuelle Diskussion über die Errichtung einer Gen-Datei für Verbrecher genannt, welcher das Lombroso-Programm zumindest in der Zielsetzung stark ähnelt. Ansonsten hält sich Kerr mit seinen Zukunftsvisionen auffällig zurück. Kein Orwellscher Überwachungsstaat kontrolliert die Menschen und doch wirkt das Jahr 2013 bedrohlich, weil es einem eben weitgehend vertraut vorkommt. Neben der systematischen Untersuchung der Menschen auf potentielle künftige Aggressionsstörungen gibt es den DNS-Code im Personalausweis und die ersehnten Kürzungen im Gesundheitsetat, da Mörder und andere Gewalttäter nicht mehr zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, sondern in ein kostengünstiges - langjähriges oder irreversibles - Strafkoma versetzt werden.

Die Geschichte wird zweigleisig erzählt: Der Leser nimmt am alltäglichen Geschehen und hier insbesondere an der Ermittlungsarbeit von Jake teil und erfährt in Einblendungen begleitend über die Morde von "Wittgenstein" aus erster Hand. Dabei nimmt man auch an dessen mitunter recht philosophischen (darf man bei dem Pseudonym ja erwarten) Betrachtungen teil. So lobt er in einem Vortrag zum Thema "Der perfekte Mord" als "erhabenstes Werk des neunzehnten Jahrhunderts" - Sie raten richtig - die Whitechapel-Morde. Aber ihn beeindrucken zwei (Jahrzehnte später agierende) Mörder um ihrer "künstlerischen Verdienste willen" noch mehr - und hier fürchte ich, raten Sie falsch -: Ramon Mercader und Ruth Ellis.

Über Ramon Mercader, den Mörder von Leo Trotzki, schreibt "Wittgenstein":

"Unsere Hochschätzung für diesen Mord beruht auf der einzigartigen Wahl der Tatwaffe (Anm.: Ein Eispickel). Denken Sie einen Augenblick an die schneidende Symbolik seiner Wahl: ein einfaches proletarisches Werkzeug, dem Hammer und der Sichel ähnlich, die emblematisch die bolschewistische Revolution darstellen; das Eis, das in Russland so verbreitert ist und in Mexiko ein Privileg der

Reichen darstellt. Es war fast, als wolle Mercader einen behaglich in Mexico City lebenden Trotzki an seine proletarischen Ursprünge erinnern."

Nachtrag: Ruth Ellis war die letzte Frau, die in England gehängt wurde.

Für philosophisch interessierte Leser bietet Kerr zudem in der zweiten Buchhälfte ein nicht minder spannendes Duell zwischen dem Philosophieprofessor Jameson Lang und "Wittgenstein" an, welches an dieser Stelle nicht detaillierter kommentiert werden soll. Es ist allerdings anzumerken, dass auch "normal gebildete" Leser dem verbalen Schlagabtausch weitgehend folgen können.

Die eingebaute Side-Story um den eingangs erwähnten "Lippenstiftmörder" gerät im weiteren Verlauf nicht in Vergessenheit, sondern wird selbstredend nebenbei gelöst. Nicht gerade ein Highlight, wie Jake den Täter "ermittelt", aber im Kontext der gesamten Story wiederum passend und außerdem ist es ja, wie erwähnt, nicht die eigentliche Tätersuche um die es geht. Jake, die aufgrund schlechter Erfahrungen in ihrer Kindheit, eine Abneigung gegen Männer verspürt, löst den Fall mit der berühmt-berüchtigten weiblichen Intuition und löst mit selbiger letztlich auch die Frage, wer sich hinter dem Pseudonym "Wittgenstein" verbirgt.

Alles in allem gelingt Kerr eine überzeugende Story mit nur gelegentlichen Längen und Schwachstellen, die den insgesamt positiven Eindruck aber nicht entscheidend trüben können. Keine Überraschung also, dass dieser Roman 1995 mit dem Deutschen Krimipreis für den besten internationalen Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet wurde.

Das Wittgenstein-Programm

Philip Kerr, Wunderlich

Das Wittgenstein-Programm

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