Tote lügen nicht
- Blessing
- Erschienen: Januar 1998
- 69
- New York: Scribner, 1997, Titel: 'Déjà dead', Seiten: 411, Originalsprache
- München: Blessing, 1998, Seiten: 537, Übersetzt: Thomas A. Merk
- München: Goldmann, 2000, Seiten: 537
- Augsburg: Bechtermünz, 2001, Seiten: 537
- München: Heyne, 2011, Seiten: 576
Kathy Reichs behauptet sich gegen die Konkurrenz
Tempe Brennan arbeitet als forensische Anthropologin am gerichtsmedizinischen Institut in Montreal. Der Anblick von skelettierten Körpern und halbverwesten Leichenteilen, der den meisten Menschen einen Schauer des Entsetzens entlocken würde, gehört zu ihrem normalen Arbeitsalltag fast schon dazu.
Doch das, was Tempe an einem Sommertag des Jahres 1994 in mehreren Müllsäcken nahe eines alten Friedhofs vorfindet, ist auch für sie ungewöhnlich grausam: der zerstückelte und misshandelte Körper einer jungen Frau.
Die Fortsetzung der Morde - und Tempe ermittelt auf eigene Faust
Tempe hat gleich das ungute Gefühl, dass dies nur die Fortsetzung einer ganzen Serie von Morden ist. Und ihr Gefühl hat sie nicht betrogen. Sehr bald werden weitere Opfer gefunden, die die Handschrift des gleichen Täters tragen. Da die Polizei die Idee eines Serienmörders nur sehr zögerlich annimmt, beginnt Tempe sich energisch in die Untersuchung einzumischen und auf eigene Faust zu ermitteln.
Aber der Preis, den Tempe für ihre hartnäckigen Fragen zahlen muss, ist weitaus höher als nur das Unverständnis ihrer Kollegen, denn sie gerät ins Visier des ebenso abgebrühten wie gestörten Täters. Und bei dem Wechselspiel zwischen Jäger und Gejagtem kann es eigentlich keinen Gewinner geben...
Die Arbeit am Seziertisch
Angesichts der detaillierten und fundierten Schilderungen der Arbeit an Tatorten und am Seziertisch verwundert es kaum, dass die amerikanische Autorin Kathy Reichs, Jahrgang 1950, von Beruf u.a. - na, was wohl - forensische Anthropologin am gerichtsmedizinischen Institut in Montreal ist. "Tote lügen nicht" ist ihr Debütroman und gleichzeitig Beginn einer bislang 4 Romane umfassenden erfolgreichen Reihe mit Fällen der unbequemen Gerichtsmedizinerin Tempe Brennan, die mit ihrer Erschafferin zumindest Nationalität, Beruf und Alter gemeinsam hat.
"Tote lügen nicht" lässt sich durchaus als ein gelungenes Erstlingswerk betrachten. Es wurde 1997 mit dem "Crime Writers of Canada’s Arthur Ellis Award" für die beste Erstveröffentlichung ausgezeichnet und inzwischen in über 15 Sprachen übersetzt. Der Roman und auch seine drei Nachfolger eroberten sich weltweit Plätze in den Bestsellerlisten.
Reichs zollt den Opfern durch Sachlickeit Respekt
Auf der Plusseite steht eine sehr anschauliche und lebendige Schilderung sowohl der persönlichen Lebensumstände der Rechtsmedizinerin als auch ihrer schwierigen Arbeit. Trotz der vor dem inneren Auge entstehenden unappetitlichen Bilder der Leichen zollt Kathy Reichs den Opfern durch eine besonders sachliche und nüchterne Beschreibung so etwas wie Respekt. Menschen mit einem besonders schwachen Magen sollten dennoch eine andere, weniger verstörende Lektüre vorziehen.
Und für Menschen mit einem besonders empfindlichen Herzen gilt das gleiche. Denn die Autorin versteht es, in einigen Kapiteln die Spannung derart hochzuschrauben, dass dies kaum ohne Auswirkungen auf den Blutdruck des Lesers bleiben kann. In drei Tagen hatte ich die über 500 engbeschriebenen Seiten durch, da mich die Handlung so gefesselt hat, dass ich das Buch kaum aus der Hand legen konnte. Leicht macht es einem dabei auch der angenehme und auch in den wissenschaftlichen Ausführungen nicht zu komplizierte Schreibstil.
Dennoch stehen auch auf der Minusseite einige nicht zu vernachlässigende Punkte:
Feminismus? Männliche Kollegen sind begriffsstutzige Trottel
Tempe Brennans männliche Kollegen bei der Polizei werden im Gegensatz zu der rührigen Anthropologin geradezu als begriffsstutzige Trottel dargestellt, denen sich die deutlichsten Sachverhalte nicht erschließen. Ihre Auftritte beschränken sich weitgehend darauf, gut auszusehen und der Heldin zur Rettung zu eilen. Diese wiederum entwickelt mit ihren gefährlichen Extratouren, die jeglicher Vernunft zuwiderlaufen, einen extrem hohen Nervfaktor.
Überflüssig und unglaubwürdig sind auch einige Nebenschauplätze wie die Erlebnisse um Tempes Freundin Gabby, die Kathy Reichs mit aller Macht in die Haupthandlung zu integrieren versucht Daraus resultiert auch, dass einige Entwicklungen vorhersehbar und nicht besonders originell sind. Die Spannung, die Kathy Reichs dennoch über lange Strecken auf einem sehr hohen Niveau hält, spricht wiederum für die handwerkliche Arbeit, die sie mit "Tote lügen nicht" geleistet hat.
Bitte: weniger blumig
Dennoch würde ich mir wünschen, dass Kathy Reichs zukünftig etwas weniger blumige Umschreibungen verwendet. Da werden Personen mit einem "Bassett", einem "durch das Wasser gleitende Krokodil" oder einem "Terrier" verglichen. Gestank verstärkt sich wie "das Zirpen einer Grille", Fliegen umschwirrren einen Leichnam wie "Akademiker das kalte Buffett", und Montreal wirkt wie eine "Rumbatänzerin im Rüschenkleid". Diese Metaphern lassen sich allesamt bereits auf den ersten Seiten finden, und in diesem Stil geht es bis zum Schluss weiter. Weniger wäre hier eindeutig mehr gewesen.
Fazit: Auch wenn Tempe Brennan nicht die erste Gerichtsmedizinerin ist, die sich auf dem großen Markt der kriminologischen Unterhaltungsliteratur bewegt, hat sie sich meiner Meinung nach mit diesem spannenden Roman verdient gegen die Konkurrenz behauptet. Die inhaltlichen und stilistischen Kritikpunkte, die mir aufgefallen sind, haben das Lesevergnügen jedenfalls nur minimal beeinträchtigt.
Kathy Reichs, Blessing
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