Die Angst geht um

  • Edition M
  • Erschienen: Januar 2024
  • 0
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Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonFeb 2024

Schrecken, der womöglich niemals endet.

Im Frühjahr des Jahres 1999 gerät das Leben der jungen Journalistin Tamara Leitner gleich mehrfach aus den Fugen. Bisher ist ihr Leben positiv ereignisreich verlaufen. Nach den üblichen Anfangsschwierigkeiten ist es Leitner gelungen, in ihrem Metier beruflich Fuß zu fassen. Sie etabliert sich als Kriminalreporterin und macht sich allmählich einen Namen. Privat ist sie mit einem Kollegen glücklich liiert. Kurz: Die Zukunft sieht golden aus.

Sowohl beruflich als privat kommt es beinahe zeitgleich zu zwei schweren Krisen: Der Lebensgefährte erkrankt schwer an einer meist tödlichen Krankheit. Außerdem stellt sich sein Leben als große Lüge heraus. Noch nachdrücklicher verändert ein Verbrechen in der direkten Nachbarwohnung Leitners Leben. Dort wird eine junge Frau überfallen und vergewaltigt. Der Täter geht erschreckend professionell vor, was auf einschlägige kriminelle Erfahrung schließen lässt.

Dieses Verbrechen lässt Leitner nicht mehr los. Sie beginnt nicht nur wie besessen in der Sache zu recherchieren, sondern steigert sich immer weiter in die Angst hinein, selbst ein Opfer des Vergewaltigers zu werden. Was Leitner in Erfahrung bringt, beruhigt sie nicht: Die Polizei ermittelt, kommt aber nicht weiter. So kann der Täter immer wieder zuschlagen - und ungeschoren bleiben. Erst nach Jahren kommt man ihm dank moderner Fahndungsmethoden endlich auf die Schliche. Doch für die missbrauchten Frauen endet der Schrecken oft nie ...

Die Grenzen der Gerechtigkeit

Das „True-Crime“-Genre ist älter als der Kriminalroman. Seit jeher fasziniert das Verbrechen den Menschen; dies gilt jedenfalls, wenn er nicht selbst das Opfer ist. Das Unglück des anderen ist aufregend, was wiederum den Geschäftssinn derer weckt, die darin eine Einnahmequelle wittern. Schon im Mittelalter verkaufte man hastig produzierte Flugblätter, in denen detailliert = schaurig-schön blutige Übeltaten nacherzählt wurden.

Grundsätzlich blieb es bei diesem Ansatz. Auch wenn „True-Crime“-Autoren später auf die „lehrreiche“ Wirkung ihrer im warnenden Tonfall gehaltenen Schilderungen hinwiesen, ging es um die ‚Attraktion‘: das Verbrechen, das ungeachtet des ihm übergeworfenen Deckmäntelchens im Mittelpunkt stand. Dass dies in der Regel mit einer vorgeschobenen Moral verknüpft wurde - Verbrechen lohnt nicht, denn Verbrecher werden stets gefangen und bestraft -, tat der Freude am plakativen Schurkentum keinen Abbruch.

Moderne „True Crime“ wie das hier vorgestellte Buch der Journalistin und Autorin Tamara Leitner wirbt mit der Intensität einer Recherche, die möglichst umfassend sein muss. Das thematisierte Verbrechen forderte und bekam ihrerseits eine besonders sensible Herangehensweise. Es kostete Leitner Jahre und viel Fingerspitzengefühl, Vertrauen zu den missbrauchten Frauen aufzubauen. Nicht alle waren bereit sich zu äußern und schmerzvoll an die Tat erinnern zu lassen. Überhaupt endeten Spuren immer wieder in Sackgassen. Zu allem Überfluss entglitt der Autorin die Recherche zu einer Obsession, die durch private Probleme verschärft wurde.

Täter unter dem Radar der Justiz

Vergewaltigung ist ein Verbrechen, das ein (Frauen-) Leben zerstören kann, selbst wenn das Opfer mit dem Leben davonkommt. Leitner geht eindringlich auf die daraus resultierenden Folgen ein. In diesem Zusammenhang beschreibt sie ein Polizei- und Justizsystem, das sich dem Delikt der Vergewaltigung zum Zeitpunkt der von ihr geschilderten Gewalttaten noch nicht mit der erforderlichen Intensität bei gleichzeitiger Rücksichtnahme widmete.

Hinzu kamen Ermittlungsmethoden, die jenseits technisch und biochemisch noch in den Kinderschuhen steckender, aber durchaus entwickelter Möglichkeiten ins Leere liefen. Die US-Polizei war um die Jahrtausendwende noch nicht überregional vernetzt, die Zusammenarbeit beschränkt. Unzählige potenzielle Hinweise verschwanden in Papierstapeln, die ‚archiviert‘ = vergessen in staubigen, feuchten Kellerräumen verschimmelten. Heute hätte man diesen Vergewaltiger bald auf dem Schirm. Auch ein glaubwürdiger Identitätswechsel ist in einer fortgeschrittenen digitalen Ära zumindest für einen nicht intelligenten, sondern schlauen und dreisten Verbrecher, der die Schlupflöcher des Justizsystems erkannte und nutzte, schwieriger geworden.

Leitner hat viele betroffene Frauen interviewt. Nicht alle wollten wie gesagt an ihr Trauma erinnert werden, andere griffen die Möglichkeit als Ventil auf. Über Jahre baute Leitner ein Netzwerk aus Überlebenden, Polizeibeamten und Juristen auf. Selbst mit dem Täter trat sie in einen zeitweilig engen (Mail-) Kontakt. Ihr privates Archiv wurde zur Grundlage dieses Buches. Einen ersten Versuch es zu schreiben hatte sie bereits 2001 unternommen. Zwei Jahrzehnte später war der Abstand zu den Ereignissen, die auch die Autorin nicht ungeschoren ließen, groß genug. Hinzu kam der Fortschritt, den die kriminalistischen Wissenschaften genommen haben. Die psychologische Untersuchung und Einordnung von Serientätern ist zur Routine geworden, und viele daraus gewonnenen Einsichten fließen in Leitners Werk ein.

Reise in die Unterwelt der Seele

„Die Angst geht um“ thematisiert nicht ‚nur‘ die Jagd auf einen viel zu lange nicht entlarvten bzw. zwar juristisch erfassten, aber weiterhin freien Straftäter. Lange Passagen sind autobiografisch, wobei Leitner über ihre Beteiligung in diesem Fall hinausgeht. Ihr Buch ist auch die Bestandsaufnahme des eigenen Lebens, das aufgrund einer toxischen Beziehung - die nicht direkt mit dem geschilderten Fall zu tun hat - aus dem Lot geriet: Über Jahre wurde sie von ihrem Lebensgefährten betrogen, hat dies irgendwann erkannt, ließ sich aber trotzdem weiterhin manipulieren.

Den schmerzhaften Prozess der Erkenntnis und die Schlussfolgerung, dass diesem Verhalten ein allgemeingültiger Mechanismus zugrunde liegt, sieht Leitner als Spiegelbild der Fallgeschichte. In einem ausführlichen Epilog führt sie aus, wo sie Parallelen zwischen dem Vergewaltiger und ihrem Lebensgefährten zieht. Die gemeinsame Basis ist der Missbrauch durch einen soziopathischen, ausschließlich auf die eigenen Bedürfnisse fixierten Charakter.

Die Verknüpfung von persönlichen Memoiren mit der Darstellung kriminellen bzw. kriminalistischen Tuns ist dennoch heikel. Objektiv betrachtet rückt sich Leitner ins Zentrum einer Selbstwertung, die man nachvollziehen kann, aber nicht schlüssig finden muss. Für sie mag die genannte Doppelung plausibel sein. Es ist jedoch ebenso zulässig festzustellen, dass sie ihrer Biografie eine Bedeutung zumisst, die ihr im Rahmen dieser ansonsten „True-Crime“-typischen, d. h. detailreich erschlossenen Fallgeschichte nicht zukommt; dies auch angesichts eines Buch-Untertitels, nach dem das Schwergewicht eben doch auf dem Kriminalfall liegt.

Fazit

Intensive, d. h. nicht nur sachlich nachgezeichnete, sondern auch persönliche Schicksale berücksichtigende Fallgeschichte. Ein Serientäter bricht in das Leben zahlreicher Frauen ein. Die Schilderung erlittenen Schreckens, der mit der Verurteilung keineswegs endet, verknüpft die Autorin mit ihrer ebenfalls durch einen Soziopathen geprägten Biografie.

Die Angst geht um

Tamara Leitner, Edition M

Die Angst geht um

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