Wie Sterben geht

  • Suhrkamp
  • Erschienen: Oktober 2023
  • 9
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Thomas Gisbertz
95°1001

Krimi-Couch Rezension vonOkt 2023

Ein Roman an der Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion

13. Novemebr 1983: Diesen Moment hat Nina Winter herbeigesehnt. Endlich sieht sie ihn wieder - Rem. Zwei lange Jahre hat sie auf ihn gewartet. Er sieht verändert aus, aber sein Lächeln erinnert sie an den Tag im Gorkipark, wo er sie zum ersten Mal Ninotschka nannte. Rem wusste, dass sie ihn retten würde und jetzt ist sie da. Und dennoch scheint alles so unwirklich, hier auf der Glienicker Brücke, die Berlin mit Potsdam verbindet, Mitten im Schneegestöber. Denn Nina und Rem sind nicht zufällig hier. Beide sind Teil eines spektakulären Agentenaustauschs. KGB-Offizier Rem Kukura - Deckname „Pilger“ - soll gegen den Sohn eines Politbüromitglieds ausgetauscht werden. Nina war Rems Verbindungsführerin in Moskau und soll ihn nun identifizieren. Als sie den Agenten fast mit Händen greifen kann, fallen Schüsse, ein lauter Knall, ein Teil der Brücke wird nach unten gerissen - und mit ihm Nina.

Fast vier Jahre zuvor: Nina Winter arbeitet als Analystin beim BND im bayrischen Pullach. Ihre Aufgabe: Auswertung von Spionage-Informationen. Kein operatives Geschäft, nur Routinearbeit. Dabei ist sie auf der Suche nach einem anderen Leben. Unerwartet erhält sie die Möglichkeit dazu: „Pilger“, der geheimnisvolle Moskauer Top-Agent des BND, macht seine weitere Zusammenarbeit von Nina abhängig: Er will, dass sie als seine Führungsoffizierin nach Russland kommt. Nina weiß, dass es die Chance ihres Lebens ist - und gleichzeitig ein Himmelfahrtskommando. Noch ahnt sie nicht, dass sie beim KGB einen Todfeind haben wird. Immer tiefer wird sie in einen Strudel aus Wahrheit und Lüge gezogen. Wenn sie überleben will, muss sie zu einer Frau werden, vor der die anderen Angst haben.

Multitalent Andreas Pflüger

Nach dem Abbruch eines Theologie- und Philosophiestudiums verdiente Autor Andreas Pflüger sein Geld zunächst als Taxifahrer, Möbelverkäufer und Koch, bevor er zum Schreiben kam. Zu seinen Werken zählen mittlerweile Theaterstücke, Hörspiele, Dokumentarfilme und Romane. Pflüger verfasste auch die Drehbücher für zahlreiche „Tatorte“. Zusammen mit Murmel Clausen erfand er den „Tatort Weimar“, für den die beiden bis 2018 auch die Drehbücher schrieben. Mittlerweile konzentriert sich der Wahl-Berliner aber auf seine Romane, für die er unter anderem mit dem Deutschen Krimipreis 2018 ausgezeichnet wurde. Nach dem Spionagethriller „Operation Rubikon“ (2004 geschrieben und 2016 bei Suhrkamp neu aufgelegt), seiner preisgekrönten Bestseller-Trilogie um die blinde Elitepolizistin Jenny Aaron und dem (Nach-)Kriegsroman „Ritchie Girl“ (2021) legt Andreas Pflüger nun - fast pünktlich zum 66. Geburtstag - seinen sechsten Roman „Wie sterben geht“ vor. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass Pflüger längst zu den besten deutschsprachigen Thrillerautoren gehört, dann hat er ihn mit seinem neuen Roman erbracht.

Ausdrucksstarker Autor

Andreas Pflüger ist ein absolutes Ausnahmetalent und das in jeglicher Hinsicht. Der Roman beginnt gleich mit einem fulminanten Showdown. Sicherlich gibt es auch andere Autoren, die spannende und rasante Spionagethriller schreiben. Aber keiner ist dabei derart wortgewaltig wie Pflüger. Seine Sprache ist mal lakonisch, mal derb und metaphorisch, aber stets ausdrucksstark, ja oftmals poetisch. In intensiven, starken Bildern lässt Pflüger die Leser in seine Romane eintauchen. Sein oftmals expressionistischer Schreibstil entwirft eine ganz besondere Atmosphäre und gibt dem Roman einen eigenen, unverwechselbaren Sound. Dem Autor gelingt es auf eindrucksvolle Weise nicht nur die Gedanken und Gefühle seiner Figuren wiederzugeben, sondern er lässt eine längst vergangene Zeit wieder vor unseren Augen entstehen. Trotz oder gerade wegen seiner Wortgewalt und sprachlichen Präzision lässt sich der Roman wunderbar lesen. Es sind Sätze wie dieser über Nina, die beispielhaft hiervon zeugen: „Sie wollte immer ewig leben, aber nie unsterblich sein.“

Ein „Zeitdokument“

Es ist der Höhepunkt des Kalten Kriegs: Die Sowjetarmee ist in Afghanistan einmarschiert, die Mehrheit der NATO-Staaten reagiert mit dem Boykott der Olympischen Spiele in Moskau, an der deutsch-deutschen Grenze werden Pershings gegen die russischen SS-20-Raketen in Stellung gebracht, während der KGB die Medien und die Friedensbewegung in Westeuropa mit Desinformation manipuliert. Dass Nina Winter einmal als Verbindungsführerin für einen KGB-Agenten tätig sein würde, hätte die junge Frau dennoch nie gedacht. Dabei ist es nur eine logische Folge: Nach ihrem Slawistik- und Russischstudium arbeitet Winter zunächst im Kulturreferat Osteuropa für das Auswärtige Amt. Beim BND sieht sie später die Chance, etwas zu bewegen. Diese bekommt sie, als sie die neue Führungsoffizierin für Rem Kukura wird, einem sogenannten „Pink Star“, der dem BND unmittelbar mit wertvollen Informationen versorgt. Dass „Pilger“ Nina als VF möchte, ist ungewöhnlich. Doch er hat seine Gründe hierfür. Nach einer kurzen, aber intensiven Ausbildung wagt die junge Frau endgültig den Schritt nach Moskau. Rem und Nina nähern sich allmählich an, vertrauen zunehmend einander. Mehr noch: Die junge Frau verliebt sich in dessen Sohn Leo. Dabei weiß sie, dass Gefühle gefährlich sind in ihrem Job. Nicht nur das muss Nina lernen. Sie tanzt an der Schwelle zwischen Pflicht und Liebe, zwischen Angst und Hoffnung. Ein Balanceakt. Doch Nina weiß, dass sie nicht davonlaufen kann und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen muss.

Fazit

So macht „Geschichtsunterricht“ große Freude. Selten gewann man in einem Thriller bei aller Fiktion ein derart präzises Bild über die Zeit des Kalten Krieges. Andreas Pflüger gelingt ein unglaublich packender Roman, der neben jeder Menge Action und Tempo auch mit großer sprachlicher Genauigkeit, einem ausdrucksstarken Erzählstil und einer greifbaren Atmosphäre zu überzeugen weiß. Kurz gesagt: Der Thriller des Jahres!

Wie Sterben geht

Andreas Pflüger, Suhrkamp

Wie Sterben geht

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