Totengedenken

  • Goldmann
  • Erschienen: September 2020
  • 2

Andreas Jäger (Übersetzer)

Totengedenken
Totengedenken
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonDez 2020

Die unkalkulierbare Dynamik des Bösen

Weil er einen Fall von Kindesentführung nicht hatte lösen können, erschoss sich Detective Inspector Duncan Bell mit seiner Schrotflinte und wurde betrauert zu Grabe getragen. Zwei Jahre später finden ihn verblüffte Polizei-Kollegen von der schottischen Northeast Division mit einer Messerwunde im Bauch tot in einem Mietwagen. Wohin war Bell wieso abgetaucht, und warum ist er nach Aberdeenshire zurückgekehrt?

Seit er für die Abteilung Interne Ermittlungen tätig ist, klärt Detective Inspector Logan McRae eigentlich keine ‚normalen‘ Kriminalfälle mehr auf. Nachdem gleich mehrere Kinder spurlos verschwunden sind sowie die Kollegin Lorna Chambers umgebracht wurde, reißt die ohnehin dünne Personaldecke des Reviers. McRae erklärt sich bereit, ein Sonderermittlungsteam zu leiten - und stellt zu seinem Entsetzen fest, dass man ihm die jederzeit unberechenbare Roberta Steel sowie den geistig glanzlosen „Tufty“ Quirrel  unterschiebt.

Wer starb ‚stellvertretend‘ für DI Bell? Als er versucht dessen Aktivitäten nach der heimlichen Rückkehr zu rekonstruieren, findet McRae zum Missfallen seines überforderten Vorgesetzten eine weitere Leiche. Trotzdem beginnt sich langsam ein Bild abzuzeichnen. Offensichtlich hängen alle aktuellen Fälle zusammen. Im Zentrum steht der „Frischfleischmarkt“, der bisher als Mythos galt: Professionelle Kidnapper fangen Kinder, die im Rahmen einer ‚Auktion‘ an Päderasten ‚versteigert‘ werden.

Die Bande ist bestens vernetzt und geht skrupellos vor. Der Zufall bringt McRae auf eine heiße Spur - und in Lebensgefahr, denn es gibt eine dritte Partei, die außerhalb des Gesetzes mit den Kinderfängern abrechnen will. McRae gerät zwischen die Fronten, während seine Kollegen verzweifelt versuchen herauszufinden, wo er steckt …

Geschäft ist Geschäft

Mit Band 11 der Logan-McRae-Serie kehrt Stuart MacBride in gewisser Weise zu seinen Wurzeln zurück. Nachdem er den Wahnwitz immer ungezügelter toben ließ, um eine aus dem Ruder laufende Gesellschaft jenseits ausgelaugter Untergangsklagen darzustellen, erreichte er schließlich jenen Punkt, an dem es wüster nicht mehr ging. In „Totengedenken“ verzichtet MacBride keineswegs auf schwarzen Humor und Klamauk, aber er hat diesbezüglich die Regler deutlich heruntergefahren.

Es liegt sicherlich auch am Thema, das Humor schlicht ausschließt: Kindesmissbrauch ist ein lukrativer Geschäftszweig geworden, der gewaltige Umsätze generiert. Die Medien legen regelmäßig deprimierende Belege für eine Schattenindustrie und ihre kopfstarke ‚Kundschaft‘ vor. Im Darknet bündeln sich kranke Begierden, aber nicht wenige Täter reicht die passive Teilhabe nicht. Hier setzt MacBride an und denkt sich den „Frischfleischmarkt“ aus, den er so intensiv in Worte fasst, dass sowohl Kritikern als auch Lesern unbehaglich wird: Das literarische Verbrechen verliert seinen Unterhaltungswert, wenn es der Realität gar zu nahe kommt.

MacBride trennt zwischen der Primärhandlung und den Kapiteln, in denen er das unverfälschte Böse schildert. Diese Passagen sind im Präsens gehalten, und sie schildern nüchtern und ohne druckausgleichenden Humor, zu welcher Niedertracht der Mensch fähig ist. Explizite Szenen erspart uns der Verfasser; sie sind nicht erforderlich, wo Andeutungen mehr als ausreichen. Angebot und Nachfrage bilden das Fundament eines ‚Geschäfts‘, das exemplarisch den unbarmherzigen Turbo-Kapitalismus des 21. Jahrhunderts widerspiegelt - in welchem Maße bzw. ob MacBride übertreibt, bleibt dem individuellem Urteil überlassen.

Am Ende der Fahnenstange

Den üblichen Irrsinn beschränkt MacBride dieses Mal auf die Polizei, deren Inkompetenz einer Kapitulation gleichkommt. Als Behörde funktioniert man höchstens, solange nicht die lästige Ermittlungsarbeit stört. Man hat mehr als genug damit zu tun sich zu verwalten und vor der Politik und den Medien einzuknicken. Die Polizei wird personell ausgedünnt und totgespart, was großmäulig betitelte Umstrukturierungen - die tatsächlich nur die schwindenden Ressourcen weiter verstreuen - vertuschen sollen. Stets ist man dem endgültigen Exitus nur einen Schritt voraus.

Das Ergebnis sind überarbeitete, frustrierte, ausgebrannte Polizisten, die sich in die innere Emigration oder in Zynismus flüchten oder gänzlich aufgeben. So wundert es nicht, dass Gesetzeshüter zur Selbstjustiz greifen, weil sie ihren Job legal nicht mehr erfüllen können. Selbstverständlich ist ihnen erst recht kein Erfolg beschieden, denn in MacBrides Welt geht zuverlässig schief, was schief gehen kann - und die Folgen sind nicht nur übel, sondern sie schaukeln sich auf, bis es zur abstrusen Entladung kommt.

Logan McRae wirkt in einer Runde höchstens eifriger, aber nur bedingt fähiger und einsatztauglicher Polizisten wie ein Fremdkörper. Als prinzipiell guter Ermittler wird er ständig durch die Tücken des Objekts ausgebremst. Gemeint sind damit sich verselbstständigende Dienstvorschriften bzw. Einschränkungen, zu deren trickreicher Aushebelung McRae viel Energie und Zeit aufwenden muss, die ihm für die eigentliche Arbeit  fehlen. So steht er schließlich verletzt und allein, aber keineswegs überrascht dem Feind gegenüber, der wiederum empört über die Störung eines gut eingeführten, soliden ‚Geschäfts‘ reagiert.

Ein trübes Gesamtbild?

Schottland gilt als (klimatisch) raues Land. Das fließt buchstäblich in dort spielende Kriminalromane ein, aber MacBride treibt es auf die Spitze. Ein Dauerregen geht nieder, und es sind keine Tropfen, die vom ewig bewölkten Himmel fallen, sondern Fluten, die sich eisig über ein düsteres, klammes, schimmelndes Land ergießen. Der Autor legt diesbezüglich eine bemerkenswerte Wortgewalt an den Tag. Dieses Schottland ist definitiv keine Schöpfung der Tourismusbranche!

Selbst Karikatur-Figuren wie Roberta Steel, Simon Rennie oder „Tufty“ Quirrel treiben ihr Unwesen gedämpfter als sonst. Vor allem Steel wirkt mehrfach fehl am Platz; als beliebte Figur mag MacBride (wohl auch nach dem Willen seiner Leser) nicht auf sie verzichten, aber faktisch spielt sie keine handlungsrelevante Rolle und reißt in erster Linie Steel-Possen.

Die echten Absurditäten spart sich MacBride für groteske Nebenfiguren diesseits und jenseits des Gesetzes auf. In dieser Hinsicht gelingen ihm immer wieder Glanzlichter eines Humors, bei denen einem - dies dürfte in der Absicht des Verfassers liegen - das Lachen oft im Hals steckenbleibt. Lichtblicke bleiben wie Sonnenstrahlen selten. Die Gerechtigkeit siegt irgendwie, doch auch hier geht MacBride einen sehr eigenen Weg. Die Strafe ist ebenso grausig wie das Verbrechen: Zufrieden darüber ertappt man sich als Fürsprecher einer jener kruden „Kopf-ab-Fraktionen“, die einfache Lösungen für eine kompliziert gewordene Gegenwart fordern. MacBride ist ein Meister darin, uns in solche Fallen tappen zu lassen.

Fazit

Im elften Band fährt Stuart MacBride den zum Markenzeichen der Logan-McRae-Serie gewordenen Wahnwitz zugunsten eines komplexen, aber sich final schürzenden Falls zurück. Ernst und Schwarzhumor stehen einander manchmal im Wege, aber als Krimi ist Totengedenken trotz erneut beachtlicher Seitenzahl wesentlich stringenter als die letzten McRae-Bände: Mit dieser Serie ist weiterhin zu rechnen!

Totengedenken

Stuart MacBride, Goldmann

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