Der Mädchenwald
- Rowohlt
- Erschienen: Dezember 2020
- 22
- OT: The Memory Wood
- aus dem Englischen von Katharina Naumann
- Broschur, 448 Seiten
Die böseste Geschichte von Hänsel und Gretel, die es je gab
Elijah ist 12 Jahre alt und oft, wenn ihm langweilig ist, läuft er in den dunklen Wald zum Knusperhäuschen und besucht Gretel. Gretel heißt jetzt nicht wirklich Gretel und sie wohnt auch nicht in einem Lebkuchenhäuschen; aber schon in einem kleinen Häuschen - also eher in dessen Keller, wo sie angekettet ist. Elijah hofft, dass sie sich ein bisschen länger hält als ihre Vorgängerinnen ...
“Wenn du gerade erst angekommen bist, warum willst du dann schon wieder gehen?“
Sam Lloyd beschreibt in seinem Debutroman ein Alptraumszenario, das kein Ende finden will: Als die 13-jährige Elissa während eines Schachturniers einmal kurz zum Wagen ihrer Mutter geht, wird sie entführt, in einem kalten Verlies angekettet und soll einer Hirnwäsche unterzogen werden. Der oder die Täter zwingen sie, ihre Mutter vor einer laufenden Kamera der Vernachlässigung zu bezichtigen. Elissas Lohn? Eine Luftmatratze, eine Decke, eine warme Suppe, die die schlimmste Kälte in ihrem dunklen, feuchten Verlies ein wenig erleichtern können. Ein bisschen verschönert wird ihr Leben auch durch die Besuche des 12-jährigen Elijah, der offensichtlich zur Familie der Entführer gehört und hin- und hergerissen ist zwischen seinen Wünschen, Elissa zu helfen und dem Wunsch, sein Familienleben und seine eigenen möglichen dunklen Verstrickungen zu schützen. Für das Entführungsopfer beginnt somit ein zusätzlicher Alptraum - denn der kindliche Junge, der ein Spiel nach dem Märchen von Hänsel und Gretel inszeniert, scheint einerseits bestürzt von ihrer Gefangenschaft zu sein, andererseits aber kalt und abgeklärt seine eigenen Ziele zu verfolgen.
„Bryoni war meine Freundin.“
“Sie haben sie umgebracht?“
“Ja, das haben sie getan.“
“Warum Elijah? Warum haben sie das getan? Warum tun sie das?“
“Weil…“, sagt er mit dieser scheußlichen körperlosen Stimme, „weil es das Richtige ist.“
Der Autor hat mit seinem unfassbar spannenden Roman im Prinzip eine moderne Fassung des Märchens von Hänsel und Gretel wiedergegeben. Die verzweifelte Gretel versucht mit eigenen Botschaften, eine Brotkrumenspur in das Land der Lebenden und zurück in die Normalität zu legen und abschnittsweise hatte ich sogar das Gefühl, dass es ein Fehler der Täter war, sich eine taktisch gewiefte Schachspielerin als Opfer auszuwählen. Dennoch führen diese Höhenflüge immer wieder zu neuen Abstürzen. Nicht zuletzt ist Elissa ein Kind, das den perfiden und brutalen Taktiken der erwachsenen Wölfe kaum eine nennenswerte Gegenwehr entgegensetzen kann. Erzählt wird die Geschichte insgesamt aus drei Perspektiven: Da ist die von Elijah, der aus der Ich-Form berichtet, die von Elissa und die der ermittelnden Polizeibeamtin Mairéad. Manchmal überrascht es, dass auch ungewohnt Privates aus der Sicht der Beamtin erzählt wird, was sich aber möglicherweise dadurch erklärt, dass der drohende Verlust eines geliebten Kindes auch ein weiterer roter Faden ist, der sich durch die Erzählung zieht.
Fazit
Der Mädchenwald bietet eine Spannung, der es unmöglich ist, sich zu entziehen, und ich kann aus eigener Perspektive nur empfehlen, mit der Lektüre zu beginnen, wenn – wie jetzt im Lockdown – viel Zeit ist. Ansonsten bietet das Buch einen Garant für nicht wahrgenommene Joggingtermine und verschobene Anrufe. Neben dieser Spannung ist Lloyd auch ein berührendes Werk gelungen, das zeigt, wie das kleine Glück einer Familie durch die Wölfe, die in der Nachbarschaft umherstreifen, zerrissen werden kann. Wenn überhaupt ein Manko an diesem grandiosen Thriller zu nennen ist, dann der, dass mit der finalen Erlösung eines Entführungsopfers die Geschichte abrupt endet. Sicher, es war soweit alles erzählt - dennoch hätte ich mir einen etwas sanfteren Ausklang gewünscht, bei dem dann auch die Gelegenheit bestanden hätte, ein paar Fragen zu klären. Mit ein bisschen Nachdenken kann der Leser sie zwar auch selbst beantworten; dennoch wäre es schön gewesen, noch ein wenig bei den Protagonisten der Geschichte zu verweilen.
„Komm nach Hause“, sagt sie zu mir.
Und ich gehe zu ihnen.
Sam Lloyd, Rowohlt
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