Das Schicksal ist ein mieser Verräter
Warum musste Rita sterben? Wer hat die Supermarktverkäuferin, die doch nie jemandem etwas zuleide getan hat, auf dem Gewissen? Hat die 53-jährige wirklich selbst ihr Todesurteil unterschrieben, als sie eines Tages etwas mit nach Hause genommen hat, was sie besser im Laden gelassen hätte? Offiziell ist der Fall abgeschlossen - aber da ist einer, der nicht aufgibt. Ein Polizist, der scheinbar wie besessen Fragen stellt - und Ritas Tod bis zum Ende nicht akzeptieren will.
Kokainfund in Bananenkiste
Als Rita Dalek in einer Bananenkiste aus Kolumbien in Plastik eingeschweißte Päckchen mit Kokain findet, schießen ihr zahlreiche Gedanken durch den Kopf. Sie ist alleine im Lager, ihr Herz schlägt immer lauter. Meint es das Schicksal endlich gut mit der 53-jährigen? Rita kann sich nicht rühren, obwohl sie weiß, dass sie schnell eine Entscheidung treffen muss. Am Abend nach ihrer Schicht wird sie das Kokain mit nach Hause nehmen. 12,75 Kilogramm. Wert: 1,5 Millionen Euro, wenn sie es streckt. Rita hat Angst, aber sie glaubt an ein gutes Ende - auch weil sie es verdient hat.
Leben und Tod
Noch hat Rita keine Ahnung davon, was in den nächsten drei Wochen passieren wird. Sie weiß noch nicht, dass sie sich in den Staatsanwalt Aaron Martinek verliebt, dass sie ihren verhassten Mann Manfred vor die Türe setzt, dass sie Zutritt zur Welt der Reichen und Prominenten erhält. Sie wird Dinge machen, die sie nie für möglich gehalten hätte. Sie wird Mitwisserin eines Mordes. Und jemand wird sie töten, weil sie das Kokain aus der Kiste genommen hat. Der grässliche Fatalismus ihres Lebens.
Beeindruckende Figurenzeichnung
Aichner ist nah dran an seinen Figuren. Er gibt ihnen etwas Gewöhnliches und Normales, ohne sie deswegen zu reduzieren. Man kennt solche Menschen, vielleicht ist man selber einer davon. Sie wirken authentisch und der Leser ist sofort auf ihrer Seite - und verzeiht ihnen, wenn sie etwas Verbotenes tun, weil man ihr Handeln allzu gut nachvollziehen kann. Ihre Triebfeder ist zutiefst menschlich.
Auch mit Aichners neuer Hauptfigur Rita Dalek ergeht es einem so. Das Schicksal meint es nicht gut mit ihr: Aufgewachsen auf einem Bauernhof auf dem Lande und aus einfachen Verhältnissen stammend ermöglicht besonders der Vater ihr den Traum von einer Schauspielkarriere. Rita besitzt enormes Talent und man verheißt ihr eine große Karriere. Nach dem plötzlichen Tod der Eltern bricht sie aber ihr Studium ab und wird Krankenschwester.
Auch hier zählt sie zu den Besten. Endlich scheint sie auch privat wieder auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen, als sie Manfred kennenlernt, ihn mit 20 Jahren heiratet und Theo auf die Welt kommt. Als aber ihr Sohn Jahre später von einem Auto angefahren wird und später stirbt, verfällt sie in Depressionen. Ihr Mann fängt an zu trinken, Rita fühlt sich alleingelassen. Sie kann sich aber nicht von Manfred trennen, obwohl er sie wie Dreck behandelt. Ihre Schwägerin und ihre Schwiegermutter machen ihr schwere Vorwürfe und geben ihr die Schuld an der Ehekrise. Immer wieder muss Rita in ihrem Leben Schicksalsschläge hinnehmen: „Sie hat angenommen, dass das Glück in ihrem Leben immer ein Ablaufdatum hatte.“
Traum vom neuen Leben
Jetzt arbeitet Rita völlig desillusioniert im Supermarkt. Täglich die selben Abläufe. Den Aufstieg zur Filialleiterin lehnt sie ab. Stattdessen putzt sie noch zusätzlich frühmorgens, noch bevor sie im Supermarkt anfängt, oder nach Dienstschluss in verschiedenen Haushalten. Doch plötzlich ergibt sich für sie mit dem Kokainfund eine Chance. Vielleicht ihre letzte Chance. Sie weiht ihre Nachbarin Gerda Danner mit ein. Die ehemalige Richterin, 20 Jahre älter als Rita, liegt aufgrund einer Krebserkrankung im Sterben. Sie hat nur noch wenige Monate zu leben.
Rita kocht für sie, macht Besorgungen und verbringt ihre Freizeit mit ihr. Gerda bestärkt sie, die Chance nicht einfach verstreichen zu lassen. Rita trifft eine Entscheidung, die ihr Leben auf den Kopf stellen wird: Sie verschenkt einen Teil des Kokains an Ferdinand Bachmair, einem 33-jährigen Milliardär und Arschloch erster Güte, für den die Supermarkt-Angestellte seit einiger Zeit putzt. Dafür führt er sie in eine für sie unbekannte und faszinierende Welt der Reichen und Prominenten ein, die sie aber gleichzeitig auch anekelt.
Faszinierender Schreibstil
Man kann sich Aichners Art zu Schreiben nicht entziehen. Seine Sprache ist zum Teil äußerst rudimentär und schlicht - und gleichzeitig voller Wucht und Klarheit. Seine reduzierte, aber poetisierte Sprache lässt die Wörter einfach auf den Leser wirken. Aichner braucht keine langen Sätze, um Inhalt und Gefühle zu transportieren.
Auch der Dialogcharakter, den er bereits in seiner Blum-Trilogie meisterhaft angewandt hat, verleiht dem Leser das Gefühl, neben den Protagonisten zu stehen. Aichner zieht einen damit in die Handlung und lässt den Leser fast schon einen Teil davon werden.
Die Ermittlungen des Kommissars - dessen Name nie genannt wird - werden in den dialogischen Kapiteln beschrieben und bieten aus der Gegenwart einen Rückblick auf das Geschehene. Sie wirken wie eine Art Verhörprotokoll. Dem gegenüber stehen die Kapitel, die Ritas Erlebnisse in den letzten drei Wochen in Prosaform schildern. Aichner nähert sich der Geschichte aus zwei Perspektiven, die einander ergänzen. Nach und nach deckt er dadurch das dramatische Geschehen um Rita auf.
Blick in die menschlichen Abgründe
Der Leser weiß bereits auf Seite 1, dass Rita sterben wird. Was zunächst so erscheinen mag, als sei damit jegliche Spannung genommen, entpuppt sich als genialer Clou Aichners. Der Leser will wissen, warum Rita kein Glück beschienen ist und verdammt jeden, der ihrem Traum vom neuen Leben im Weg steht - auch wenn man doch relativ früh im Verlauf des Thrillers ahnt, worauf es hinausläuft.
Dennoch entwickelt die Geschichte um die Verkäuferin einen unfassbaren Sog. Das liegt vor allem an zwei Dingen: Zum einen führt Aichner den Leser immer wieder in die Irre und überrascht mit neuen Wendungen. Zum anderen zeichnet er ein bizarres Bild der Bösen, mit denen sich Rita auseinandersetzen muss. Das gilt besonders für den Milliardär Bachmair, aber auch für andere Figuren wie den Zahnarzt Bernhard Rosenthal.
Die faszinierende Welt der Reichen entpuppt sich als egoistische, sadistische und kranke Realität. Sie zeigt Menschen, die meinen, mit Geld und Macht alles haben zu können und sich anderen gegenüber herablassend sowie entwürdigend verhalten zu können. Die Absurdität ihrer Existenz und ihre Unzufriedenheit mit dem Leben in ihrer eigenen Welt, in der die Grenzen zwischen Gut und Böse längst überschritten sind, beschreibt Aichner auf beeindruckende Weise.
Einen ganz besonderen Clou hebt sich Aichner für den Schluss auf. Ein Ende, das zeigt, dass die Welt einen auch anlächeln kann und das Schicksal sich ins Positive verkehrt. Aichner schafft dies, ohne zu verklären oder zu romantisieren.
Fazit:
Aichner erzählt eine zutiefst tragische Geschichte vom Schicksal einer einfachen Verkäuferin, von Recht und Unrecht, aber auch von Liebe und Menschlichkeit. Es ist dem Talent des Autors zuzuschreiben, dass der Thriller dabei niemals kitschig oder gar rührselig wird. Aichners Bücher entwickeln ihre eigene Atmosphäre. Sein Sprachstil seziert die Schattenseiten menschlicher Existenz und gleichzeitig zeigt er auf, dass es auch eine andere Welt gibt - voller Liebe, Menschlichkeit und Nähe. Seine Art zu schreiben ist unverwechselbar: gradlinig, direkt, poetisch, spannend. Ein mehr als beeindruckender Thriller.
Bernhard Aichner, btb
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