Das Geheimnis der Grays

  • Klett-Cotta
  • Erschienen: September 2018
  • 2

Originalausgabe erschienen 1934 unter dem Titel „Portrait of a Murderer - A Christmas Crime Story“, deutschsprachige Ausgabe erstmals erschienen 2018.
- London : Victor Gollancz 1934. 283 Seiten.
- Stuttgart : Klett-Cotta 2018. Übersetzt von Barbara Heller. ISBN-13: 978-3-608-96299-4. 297 Seiten.
- Stuttgart : Klett-Cotta 2016. Übersetzt von Barbara Heller. ISBN-13: 978-3-608-11502-4. 1049 KB (eBook/Kindle)

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Michael Drewniok
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonDez 2018

Weiße Weihnacht, blutroter Tod: Familie Gray unter Verdacht

Sieben Nachkommen haben Landedelmann Adrian Gray und seine längst verstorbene Gattin in die Welt gesetzt. Sechs leben noch und sind einander in herzlicher Abneigung zugetan. Einig sind sich die Brüder Richard und Hildebrand sowie die Schwestern Amy, Olivia, Isobel und Ruth höchstens in ihrer Abneigung gegen den Vater, einen sittenstrengen, gefühlskalten und vor allem geizigen Mann, der wie ein Feudalfürst alter Schule auf seinem Landgut King’s Poplars residiert und die Zeit entweder damit verbringt, seine Nachkommen zu piesacken oder sein Geld in riskante Spekulationsgeschäfte zu investieren, zu denen ihn Schwager Eustache Moore - Olivias Gatte - überredet.

Leider hat Moore die Kontrolle über sein Schneeballsystem verloren. Die Behörden ermitteln, doch klar ist schon jetzt, dass die Einlagen der Geldgeber verloren sind. Auch Adrian Gray ist pleite. Dennoch will ihn Moore überreden, weitere 10000 Pfund zu geben, um das wankende Scheinimperium zu stabilisieren. Damit will Moore mit seinem Schwiegervater während des traditionellen Familientreffens sprechen, das zu Weihnachten 1931 auf King’s Poplars stattfinden wird.

Allerdings plagen auch die anderen Gray-Kinder akute Geldsorgen. Sie wollen den Vater ebenfalls anpumpen, was diesen in heftige Zornausbrüche treibt. Gray Senior ist ein Meister der scharfen Zunge. Dieses Mal geht er zu weit; eines der mit Vorwürfen und Hohn überhäuften Kinder schlägt ihn mit einem Briefbeschwerer den Schädel ein. Für diese Tat will die/der Betreffende keineswegs hängen. Also fälscht sie/er die Indizien, bis alles auf Eustache Moore als Mörder hinweist. Die Polizei fällt darauf herein, doch Anwalt Miles Amary - Isobels Gatte - wird misstrauisch und beginnt den Fall privat aufzurollen …

Kuschel-Krimi mit Stacheln

Der klassische englische Rätselkrimi ist ein Phänomen: Es wird gemordet, doch die Aufklärung gleicht einem spannenden Wettkampf oder gar Spiel. Selbst der schließlich entlarvte Mörder ist nicht wirklich böse, dass es sie oder ihn erwischt, und bringt sich in der Regel rücksichtsvoll selbst um, was einen peinlichen Prozess verhindert. Die Schar der Verdächtigen gewinnt durch charakterliche Schnurren individuelle Züge, der Ermittler ist genial, aber exzentrisch. Der erzählerische Grundton ist leicht ironisch; auf jeden Fall bleibt eine emotionale Distanz spürbar: Obwohl das Geschilderte oft tragisch ist, nimmt es die Leserschaft nicht wirklich ernst.

So stellten sich besagte Rätselkrimis dem deutschen Publikum lange und beinahe ausschließlich dar. Agatha Christie beherrschte das einschlägige Instrumentarium meisterhaft. Deshalb dominierte sie auch hierzulande das Krimi-Genre. Hinzu kamen ihre Epigonen, die sich des bewährten Rezepts bedienten. Noch heute werden primär ‚gemütliche‘ Mordrätsel-Krimis auf den Buchmarkt geworfen. Sie versetzen ihre Leser in eine angeblich „gute, alte Zeit“, die mit der ungemütlichen Gegenwart wenig zu tun hat.

Tatsächlich stellte solche Realitätsflucht keineswegs die Regel dar. Anne Meredith zeigt mit „Das Geheimnis der Grays“, dass schon in der „Goldenen Ära“ des Kriminalromans -  also vor dem Zweiten Weltkrieg - das psychologische Moment durchaus mit dem „Kuschel-Krimi“ kombiniert werden konnte. Faktisch wirkt „Das Geheimnis der Grays“ erstaunlich frisch; unangenehm aktuell könnte man ebenfalls sagen, denn die Konflikte und Probleme, die hier dargestellt werden, sind vielleicht allzu gut nachvollziehbar.

Ein Prinzip wird auf den Kopf gestellt

Selbst die beliebte Ermittlungsjagd auf den Mörder will uns die Verfasserin nicht gönnen. Wer Adrian Grays Leben ein abruptes Ende setzt, wird praktisch sofort enthüllt. Meredith geht es nicht um das klassische Rätsel. Sie beschäftigt sich mit der Psyche - nicht nur der des Mörders, sondern auch mit den Gemütszuständen sämtlicher Figuren, die in King’s Poplars zusammenfinden, obwohl oder gerade weil sie einander nicht ausstehen können.

Den Freunden des nicht gar zu ernsthaften „Whodunit“ war das schon damals ein wenig zu viel des Realistischen. „Das Geheimnis der Grays“ wurde positiv kritisiert und rezensiert. Trotzdem war dem Buch kein nachhaltiger Erfolg bestimmt. Meredith wird zu ‚deutlich‘. Emotionen werden hier den Figuren nicht übergestülpt und dabei übertrieben. Auch heute sehr handfeste Probleme plagen die Grays. Sie gehen über die kollektive Geldnot weit hinaus. Meredith schweift - scheinbar - immer wieder vom Krimi-Geschehen ab, um auf die Vergangenheit der Figuren zurückzublenden; dies schließt übrigens auch den ermittelnden Polizisten ein, der ansonsten keine besondere Rolle spielt. 

Nach und nach wird deutlich, dass die aktuellen Ereignisse in den beschriebenen Verletzungen, Beleidigungen und Fehlschlägen wurzeln. Faktisch geht es im Mordfall Adrian Gray nicht um Geld. Weit im Vordergrund stehen Emotionen, die allzu lange unter einem Deckel gären konnten, um sich nun explosionsartig zu entladen. Das Weihnachtsfest ist in diesem Zusammenhang Nebensache. Jedes Treffen hätte katastrophal geendet.

Alles kommt auf den Tisch. Enttäuschte Erwartungen, aufgeschobene Erwartungen, sogar sexuelle Nöte: Meredith findet deutliche Worte. Zudem überrascht sie mit einer unkonventionellen Charakterzeichnung des Mörders. Sie schildert ihn als verletzten, durchaus sympathischen Menschen, der zu weit in die Ecke gedrängt wurde. Dass der Autorin dies mit einer Figur gelingt, die ihre Familie im Stich lässt und einen Unschuldigen an ihrer/seiner Stelle hängen sehen könnte, unterstreicht Meredith‘ Talent. Nicht grundlos stellte schon die Krimi-Kollegen Dorothy L. Sayers diese Vielschichtigkeit in einer lobenden Besprechung heraus.

Die Jagd als Weg zur Erkenntnis

„Das Geheimnis der Grays“ ist in drei Großkapitel gegliedert: Vorgeschichte, Mord und Ermittlung, Verdacht und Klärung der wahren Geschichte. Der kriminalistische Aspekt wird keineswegs unterschlagen, doch die Auflösung ist nicht das Produkt deduktiver Fähigkeiten und Aktivitäten. Miles Amory, der Anwalt, ist zunächst überhaupt nicht geneigt, sich für seinen Schwager einzusetzen. Dieser ist höchstens im Mordfall Gray unschuldig, hat aber als windiger Spekulant viele betrogene Kunden ins Elend gestürzt. Deshalb muss sich Amory erst einmal darüber klar werden, ob es Eustache Moore ‚verdient‘ aus der Todeszelle geholt zu werden.

Um die Sache hässlich auf die Spitze zu treiben, ist Moore Jude. Vorurteile waren auch in England omnipräsent, selbst wenn sie eher beiläufig und damit besonders hinterhältig zum Tragen kamen. Solange Moore für anständige Renditen sorgt, haben seine Kunden keine Probleme mit seiner Religion. Das ändert sich umgehend, als Moores Machenschaften offenbar werden: Nun gilt er als Geldschneider und Schuft sowie „typisch“ für seine „Rasse“.

Dass sich aller Streit und auch der Mord letztlich als sinnlos erweisen, stellt einen weiteren Bruch mit Krimi-Konventionen dar. Adrian Gray ist längst ein ruinierter Mann, als er stirbt. Als die Mörderin/der Mörder dies bemerkt, sorgt es nicht für den erwarteten Schrecken, denn größer ist die Freude, sich endlich von dem Tyrannen befreit zu haben. Überhaupt stellt Grays Tod die Weichen für einen allgemeinen Neubeginn. Die jüngeren Grays müssen sich neu orientieren. Als die erste Furcht überwunden ist, erkennen sie die daraus resultierenden Möglichkeiten.

Die Auflösung ist erwartungsgemäß keine im krimitraditionellen Sinn. Als die wahren Umstände des Mordes nach intensiver Recherche feststehen, unternimmt der Mörder keinerlei Fluchtversuch. Sie/er hat inzwischen umgesetzt, was sie/er als Lebensziel ins Auge gefasst hatte. Damit ist ihr/sein Leben erfüllt; der nun zu erwartende Tod ist ein willkommener Abschluss. Das mag als Resümee heute melodramatisch wirken, ist aber konsequent und plausibel; nur ein ‚richtiges‘ Krimi-Finale ist es eben nicht. 

Wohl auch deshalb fremdelten die Leser. Meredith schwenkte jedenfalls um, nannte sich „Anthony Gilbert“ und setzte einen ‚richtigen‘ Ermittler in die Krimi-Welt. Arthur G. Crook ermittelte ab 1936 in insgesamt 50 (!) Fällen und bestätigte das (Vor-) Urteil über allzu idyllzentrierte Krimi-Leser. „Das Geheimnis der Grays“ versank unverdient in Vergessenheit. Nun ist es - erneut dank der Reihe „British Library Crime Classics“ - wieder da und dies endlich auch in Deutschland, wo es als schön gestaltetes, trotzdem kostengünstiges Buch zu erwerben ist, das abrundend ein aufschlussreiches Nachwort von Martin Edwards beinhaltet.

Das Geheimnis der Grays

Anne Meredith, Klett-Cotta

Das Geheimnis der Grays

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