Der Nachbar
- Tropen
- Erschienen: Oktober 2018
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- Rio de Janeiro: Rocco, 2017, Titel: 'Gog Magog', Seiten: 174, Originalsprache
- Stuttgart: Tropen, 2019, Seiten: 176, Übersetzt: Barbara Mesquita
Mehr Selbstfindungstrip denn Krimi
Sao Paulo. Ein namenloser Lehrer fühlt sich von seinem über ihn wohnendem Nachbarn gestört. Ständig Schritte, Möbelrücken und Gepolter. Der Nachbar, Ygor Silva, wegen seines mit Y beginnenden Vornamens „Senhor Ypsilon“ genannt, ist sich indessen keiner Schuld bewusst.
„Es dauerte noch fast eine Woche, bis unser Krieg ausbrach. Senhor Ypsilon erfüllte seinen Part sattsam: Er stampfte, dröhnte, leuchte und klapperte Tag und Nacht. Mit Inbrunst. Was mich anging, so muss ich sagen, dass ich meinen Hass hegte und pflegte wie einen Rosenstrauch, mit schwarzer Galle anstelle von Dünger.“
Die Situation eskaliert. Autos werden beschädigt, und eines Tages verschwindet die Katze des Lehrers. Senhor Ypsilon muss sie getötet haben, so die einzig logisch klingende Schlussfolgerung des Lehrers, der die sich bietende Gelegenheit nutzt, von dem Wohnungsschlüssel seines Peinigers einen Nachschlüssel anfertigen zu lassen. Als er diesen im Urlaub wähnt, betritt er dessen Wohnung, in der Hoffnung, vielleicht doch noch seine Katze zu finden.
Dann kehrt der Nachbar unerwartet zurück und ehe der Lehrer weiß, wie ihm geschieht, löst sich ein Schuss aus jener Pistole, die er wenige Minuten zuvor gefunden hat. Der Nachbar, am Knie getroffen, stürzt und schlägt sich dabei den Schädel auf. Als Marta, die Frau des Lehrers, diesem kurz darauf eröffnet, sich von ihm scheiden lassen zu wollen, bricht seine Welt vollends zusammen. Nur eine Frage scheint derweil dringender zu sein: Wohin mit der Leiche?
Überschaubarer Spannungsbogen, feines Psychogramm
Patricia Melo gehört zu den interessantesten Krimi-Autorinnen Lateinamerikas. Internationale Auszeichnungen erklären womöglich den stolzen Kaufpreis von 18 Euro für einen Roman, der lediglich rund 150 Seiten aufweisen kann. Mancher Krimifan wird sich zudem wundern, denn bezüglich Action und Tempo gilt hier Fehlanzeige. Auch fehlt es an jeglicher kriminalistischer Spannung hinsichtlich des Tathergangs. Alles wird genau beschrieben, es bleiben keine Fragen offen. Nach knapp 50 Seiten ist Senhor Ypsilon tot. Wenig später wird der Lehrer verhaftet und wartet fortan im Gefängnis auf seinen Prozess, der über zweieinhalb Jahre später stattfinden wird.
„Alle neun Minuten wird in Brasilien ein Mensch umgebracht. Nicht einmal sämtliche Fanatiker, Regierungstreuen und Aufständischen in Syrien zusammen schaffen es, unsere Mordstatistiken zu überbieten. Und wissen Sie, welches Interesse die Presse an diesen verbrechen hat? Gar keines.“
Der zweite Teil von „Der Nachbar“ beschäftigt sich mit dem Gefängnisaufenthalt und späteren Prozess, wobei sich dann tatsächlich ein wenig Spannung aufbaut. Wird es dem Verteidiger gelingen, eine halbwegs geringe Strafe zu erreichen? Durch die ständigen Geräusche aus der Wohnung seines Nachbarn seien organische Krämpfe aufgetreten, eine besondere Form der Epilepsie. Sein Mandant sei folglich krank und schuldunfähig. Doch wie erklärt sich, dass der Lehrer seinen Nachbarn nach der Tat zerstückelte und in zwei Koffer verteilte?
Bis diese Frage geklärt ist, kann sich der Protagonist und Ich-Erzähler mit den wichtigen Fragen des Lebens auseinandersetzen. Wie konnte die Ehe mit Marta zerbrechen, die schon länger nicht mehr als solche zu bezeichnen war? Wieso erfährt er erstmals in der Gefängniswerkstatt - zudem für das Montieren von Wasserhähnen - eine Anerkennung, die ihm zeitlebens in der Schule verwehrt wurde. Dort galt es stattdessen, selbst den dümmsten Schülern gute Noten zu geben, aus Angst vor deren Reaktionen.
Fazit:
Sprachlich überzeugt „Der Nachbar“ in jeder Hinsicht und als Psychogramm vermag er zu punkten. Der „kriminelle“ Spannungsbogen begrenzt sich hingegen auf den Prozessausgang, der so – in Deutschland – sicher nicht möglich wäre.
Patrícia Melo, Tropen
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