White tears

  • Liebeskind
  • Erschienen: Januar 2017
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  • München: Liebeskind, 2017, Seiten: 349, Übersetzt: Nicolai von Schweder-Schreiner
White tears
White tears
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Jochen König
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonAug 2017

Die Geschichte des Blues ist eng mit Mythen verbunden, wie jenem, dass Robert Johnson seine Seele für ein wenig Bluesmagie an den Teufel verkaufte. Damals an jener Kreuzung in Coahoma County, wo er dem "Gentleman" begegnete, der ihn zu einem begnadeten Gitarristen werden ließ und später zu jenem frühen Mitglied im "Club 27" , jener Gruppe Musiker*innen, die im Alter von 27 Jahren starben.
Der Realität hält der Mythos nicht stand. Robert Johnson war ein talentierter Musiker, der schnell lernte und früh begriff, dass der folkloristische Blues das Zeug zu populärer Musik hat. Dafür musste er seine Seele nicht an den Gentleman verkaufen. Johnson begibt sich auf Wanderschaft, nimmt eine Handvoll Songs auf und stirbt 1938 einen mysteriösen Tod. Ein Drama der Straße, keins der großen Bühne. Entweder vergiftet von einem Nebenbuhler oder an der Syphilis. Fast vergessen und weitgehend unbeachtet, besaß er zunächst für die Entwicklung des Blues in der schwarzen Community kaum Bedeutung. Bis weiße, plattenkaufende Kids gut zwei Jahrzehnte die Legende aufsaugten und die konservierte Musik Johnsons als Pop-Innovation feierten. Robert Johnson, der "dunkle König" wird zur Ikone. Musikgeschichte und der Beginn eines großen Ausverkaufs. Unter anderem davon erzählt Hari Kunzru in seinem vielschichtigen Roman "White Tears".

Der junge Carter Wallace erfindet ein mythisches Äquivalent zu Robert Johnson, den finsteren Charlie Shaw, dessen vermeintlich einzige Tonaufnahme der fanatische Sammler aus reichem Haus, aufgespürt haben will. Dabei ist das Stück "Believe I buy a graveyard of my own" nur die expandierte Bearbeitung eines Soundschnipsels, den Carters Partner Seth zufällig bei einem Gang durch den Park mitgeschnitten hat.

Der verschrobene Seth betätigt sich seit frühester Jugend als Klangforscher und sammler, negativer ausgedrückt: Seth ist ein Akustik-Stalker. Irgendwie gelingt es dem menschenscheuen Nerd im College die Aufmerksamkeit des alerten Carter zu wecken. Die beiden werden Freunde und später Besitzer eines Tonstudios. Mit Seth Akribie und Carters Enthusiasmus erzielen sie erste Erfolge als Musikproduzenten, bis Carter wie versessen auf antike Tonträgerjagd geht und von einem reinen, ursprünglichen Soundideal träumt, sich aber in oberflächlicher Materialbeschaffung zu verlieren droht. Der Absturz beginnt mit Seths Park-Eroberung. Was er als kurze Sequenz wahrnimmt, entpuppt sich unter Carters Bearbeitung als kompletter Song. Carter erschafft den fiktiven Komponisten und Interpreten Charlie Shaw und macht den Song publik.

Keine gute Idee, denn es mehren sich die Anzeichen, dass ein Charlie Shaw tatsächlich existiert (hat) und nachhaltig Anrechte am Lied vermeldet. Zunächst nehmen die beiden Freunde das Anliegen nicht ernst, doch dann wird Carter ins Koma geprügelt und seine Familie bugsiert Seth aus Carters Leben und dem gemeinsamen Geschäft. Lediglich Carters Schwester Leonie, in die Seth heimlich verliebt ist, nimmt eine ambivalente Haltung ein und begibt sich mit ihm auf die Suche nach Charlie Shaw.

Daraus wird eine Reise wie ein Fiebertraum auf David Lynchs Lost Highway. Shaw taucht manchmal scheinbar auf, verschwindet wieder, Seth stößt auf zwei ideelle Ahnen, Doppelgänger beinahe, einen fanatischen Plattensammler und seinen Kollegen. Vielleicht sind es aber auch die eigenen Schatten, die er verfolgt. Erzählperspektiven verschwimmen, verändern sich, ein Mensch stirbt gewaltsam, wie und warum wird nicht klar. Erst scheint es gut zu laufen für Seth, dann wird er unter Mordverdacht verhaftet, wieder freigelassen, soll mit Geld und Verträgen ruhig gestellt werden, bleibt aber auf der Suche. Er entwirft eine Biographie Charlie Shaws, die eng mit den Angehörigen und Vorfahren Carters verbunden ist. Am Ende wird es weitere blutige Todesfälle geben und Seth wird erfahren, was auf der B-Seite der Single Charlie Shaws ist. Es wird mit Gelächter enden und einen hohen Preis fordern, der zu zahlen ist. Eher an die Hölle als den Teufel selbst.

Musik liegt nicht nur in der Luft, sondern durchdringt auch die Seiten von Hari Kunzrus so faszinierendem wie irrlichterndem Roman. Sie ist Antrieb und Begehren, beeinflusst das Leben der Protagonisten, lässt Chancen wachsen und führt zu Abstürzen. "White Tears" nimmt Mythen, explizit des Blues, ernst, überhöht aber nichts, sondern lässt sie existenziell werden, um sie am Ende mit der Realität zu konfrontieren und zerschellen zu lassen. Denn Charlie Shaw, das Phantom und die Nemesis von Seth und Carter wandelt sich, stellvertretend für viele andere Schicksale, vom begnadeten Musiker auf dem Weg ins Aufnahmestudio zum ausgebeuteten und misshandelten Sklaven. Ein schwarzer Mann in einer weißen Stadt, zur falschen Zeit am falschen Ort. Ausgeliefert und ausgebeutet. Raubtierkapitalismus und Machtmissbrauch sind prägende Themen von "White Tears".

Die ökonomischen Voraussetzungen bestimmen das Sein; Talent, Fähigkeiten und künstlerische Visionen sind zweitrangig. Seth, der die Welt und ihre Geräusche aufsaugen möchte, um sie verstehen zu können, begibt sich in Abhängigkeit von Carter und seiner steinreichen Familie; Carter selbst, der zum Wesen der Musik vordringen möchte, verliert sich in tumber Auflehnung und Veräußerlichung. Der Jäger wird zum fanatischen Sammler industrieller Produkte. Seinen Untergang läutet ein Fake ein. Aber immerhin einer, der von der möglichen Intensität und Wirkung musikalischen Schaffens handelt. Die gleichzeitig mit den Verfehlungen der eigenen Vorfahren einhergeht.

"White Tears" ist geprägt von der Schilderung individueller Zerrissenheit und gesellschaftlicher, zeitenübergreifender und fast schon schicksalhafter Verbundenheit. Die Lesarten des Romans sind zahlreich, denn "White Tears" funktioniert als Noir, abdriften in den Wahnsinn inbegriffen, als Mystery-Thriller wie gesellschaftskritische, tiefschwarze Satire und als flirrender Höllentrip in den Magischen Realismus. Grenzen sind schließlich da zum Überschreiten. Deshalb grüßen Michelangelo Antonioni, Julio Cortazar und ihr Fotograf Thomas sowie der bereits erwähnte David Lynch vom Seitenstreifen.
"Funny how secrets travel, I'd start to believe if I were to bleed, Thin skies, the man chains his hands held high, Cruise me blond, cruise me babe, A blond belief beyond, beyond, beyond, No return, no return". (David Bowie "Im deranged")

Die Befindlichkeit einer Welt, die in der Auflösung begriffen ist. "White Tears" singt den langen, bitteren Blues dazu.

White tears

Hari Kunzru, Liebeskind

White tears

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