Krimi-Hörspiele:
Mediatheken / 31
"Marlov in Tschernobyl"
Ein Show-Down und Shut-Down?
Der Autor David Zane Mairowitz hat mit dem sowjetisch-russischen Privatdetektiv Yevgeny Marlov 2006 eine Kultfigur geschaffen. Und ja, der kundige Hörer ahnt es: Die Nähe zu Raymond Chandlers Philipp Marlowe ist beabsichtigt. Da Marlov im Spieljahr des ersten Krimis 1934 (I killed Kirov) nicht ganz jung war, kann man ihn getrost als alterslos, vielleicht als unsterblich bezeichnen, wenn er 1986 immer noch ermittelt, zudem fit wie eh und je. Anders als bei Chandler sind die Krimis von Mairowitz nicht unpolitisch und durchaus informativ. Dem produzierenden Sender WDR ist dann auch noch das Kunststück gelungen, Marlov bis heute mit dem genialen Udo Schenk zu besetzen, der sonst im Arztfernsehen verkümmert. Bis heute (Juli 2023) sind 14 Krimis erschienen, immer betreut vom Regisseur Jörg Schlüter und lange begleitet von der Eingangsmelodie Walzer Nr. 2 von Schostakowitsch.
Inhalt
Moskau 1986. Es klingelt in der heruntergekommenen Absteige Marlovs. Der alte, zahnlose Marlov schleppt sich durch die Whiskey-Flaschen zur Tür: Eine junge Frau bittet ihn um Hilfe. Ihr Bruder ist zusammen mit 8 anderen Bergsteigern bei einem Lawinenunglück in der Ukraine in Prypjat ums Leben gekommen. Sie möchte seinen Leichnam nach Moskau holen. Prypjat? Bergsteigen? Das ist doch weit und breit flaches Land! Marlovs Schnüfflerinstinkt wird wach und er nüchtern. Aber seine Skepsis bleibt. Wie hat die Frau ihn gefunden? Sei´s drum.
Beide begeben sich auf die lange Reise in das Gebiet, das 1989 durch die Katastrophe von Tschernobyl berüchtigt wurde. Doch der Zugang ins Leichenschauhaus wird ihnen verwehrt. Das stachelt Marlov endgültig an, nicht aufzugeben. Es beginnt eine Suche nach der Leiche und der Wahrheit. Immer gestört durch brutale Geheimpolizei, lebensgefährliche Situationen. Der Zugang zum Gebiet, in dem die Toten gefunden wurden, ist militärisch hermetisch abgeriegelt. Marlov wird klar, hier soll etwas Hochdramatisches verborgen werden. Aber auch der Passierschein vom sowjetischen Präsidenten Gorbatschow hilft ihm nichts gegen die lokale Polizeimafia. Was bedeutet der Hinweis: Wermut? Das ist die deutsche Übersetzung des (W)-Ortes Tschernobyl. Der Stern Wermut ist zugleich eine Mahnung, begangene Sünden nicht zu vergessen.
Hörspiel
Wie alle Marlov-Krimis ist es eine Mischung aus hoffnungslos überzogenen hard-boiled Szenen und politischen Intrigen und Wahrheiten. Mit seiner alten Luger und einem alterslosen Kämpferherz rettet er sich aus jeder Brenzligkeit. Es ist aber nie langweilig, weil dem Autor Mairowitz die Ideen nicht ausgehen, wie sich Marlov wieder rettet. Und dann gibt es noch die Kontakte. Marlov kennt jeden KGB-ler, sei er auch noch so weit von Moskau entfernt. Und natürlich kennt er Mischa im Kreml, zu dem er sich Zugang verschafft hat.
Erzählt wird die Geschichte von Marlov selbst. Dem folgen die vielen spannenden Szenen und Spielorte: Leichenschauhaus, ukrainische Wälder, Eisenbahnwagon, Marlovs Absteige und vieles mehr. Die Regie fügt das alles durch wunderbare akustische Unterstützung zusammen, leider ohne Schostakowitsch. Auch der Hörer, der die Handlung für baren Unsinn hält, wird das Zuhören genießen.
Aber Mairowitz ist auch politisch. Er verlegt ein Ereignis aus dem Jahr 1957 an einen anderen Ort und in eine andere Zeit. Schon 30 Jahre vor Tschernobyl hat die Sowjetunion vertuscht und gelogen, um eine reale Katastrophe zu verheimlichen. Alle Marlov-Krimis sind eine düstere Mahnung vor den lebensgefährlichen Machenschaften eines Staates, der dem Militär und der Geheimpolizei das Regieren überlässt.
Ein Wermutstropfen: Die Schlussszene deutet an, es könne nun doch der letzte Marlov gewesen sein. Wer führt künftig private Schnüfflerfeldzüge gegen den kriegführenden Tyrannen Russland?
Fazit
Nicht jeder wird Marlov mögen. Es gibt in der Episodenreihe schwächere und bessere Stücke. Aber es ist schön, in einer sich extrem wandelnden Welt etwas verlässlich Wiederkehrendes zu hören, das so rücksichtslos hart und spannend ist. Und die Männer unter den Hörern müssen ihre dunkle Seite nicht ausleben, sondern hören ihr eigenes Kino im Kopf.
Couch-Wertung: 90°
ARD Audiothek und WDR
"Lucian Wing"
Zwei Freeman-Krimis aus den tiefsten USA
Castle Freeman ist ein spät entdeckter amerikanischer Autor, der zudem noch spärlich publiziert. Der SWR hat bereits 2018 zwei seiner Krimis beeindruckend umgesetzt. Im Sommer 2023 veröffentlich der SWR mit „Der Klügere legt nach“ und „Herren der Lage“ zwei weitere Hörspiele aus der Trilogie um den lakonischen, ruhigen Polizisten Lucian Wing. Er lebt in einem verschlafenen, einsamen Nest in Vermont, USA.
Der Klügere legt nach
County Sheriff Lucian Wing hat Ärger. Seine Frau Clemmi hat einen anderen Bettgenossen und er muss, wenigstens zeitweise, ausziehen. Und dann wird auch noch dem Kleinkriminellen Terry St. Clair die Hand abgehakt. Typischer Racheakt, kein Fall für die Polizei. Wird sich schon alles mit der Zeit regeln.
Doch der ehemalige hohe Militär und jetzige Gemeinderatsvorsteher Steve Roark sieht das anders und erwartet eine schnelle Aufklärung. Diese Ansammlung von schwierigen Situationen beunruhigt auch seinen ehemaligen Chef und seine beiden alten Kumpels. Terry flieht nach einem ausführlichen Beratungsgespräch, Lucians Nebenbuhler wandert nach der Schilderung, wie Ochsen kastriert werden, gen Florida. Bleibt DIE SITUATION: Steve Roark.
Herren der Lage
Lucian Wing bekommt Besuch. Aus der großkotzigen Limousine steigt ein vornehmer Snob aus. Er ist Anwalt und vertritt den reichen New Yorker Rex Lord. Der ist auf der Suche nach seiner halbwüchsigen Tochter Pamela, die sich hier in den Wäldern von Vermont verstecken soll. Lucian möge sich darum kümmern. Das sind genau die Töne, die Wing nicht mag. Selbstredend findet er schnell die Tochter mit einem Freund aus dem College in einem Zelt mitten im Wald, umgeben von einer Hanf-Plantage. Er verrät sie nicht, sondern versteckt sie vor dem Anwalt und ihrem Stiefvater. Nun ist es zu Ende mit der Freundlichkeit. Gnadenlose Killerkommandos begeben sich auf die Suche nach Pamela. Lucian und seine Kumpel müssen sich viel einfallen lassen, um Pamela zu schützen. Da hilft es, dass sein Schwiegervater Adison den reichen Rex Lord kennt. Und vor allem die Mutter von Pamela. Sie hatten in jungen Jahren mal was miteinander. Um Pamela zu retten, braucht er aber doch unerwartete Hilfe.
Die Hörspiele
In den Lucian Wing Krimis ist Lucian nicht nur die Hauptperson, sondern auch der Erzähler. Der Hörer darf also keine irgendwie neutrale Position erwarten. Eine Stimme im off verkündet lediglich die Titel der einzelnen Szenen. Lucian ist ruhig bis zur Gleichgültigkeit, der Heimat und Landschaft zutiefst verbunden und abgebrüht bis zum geht nicht mehr. Das hört man auch. Trotz vieler Schauplätze ist das Erzähltempo ruhig, was dem Hörer ermöglicht, die sprachlichen Feinheiten wahrzunehmen. Auch wenn es nicht immer die gleichen Sprecher wie in den ersten Freeman-Krimis sind, treffen alle einen Ton, den sich der Hörer von vierschrötigen Personen im einsamen Vermont vorstellt. Devid Striesow ist eine kongeniale Besetzung als Lucian. Die Vorlage, die zwischen feiner Ironie und Hard-Core schwankt, ist nicht eben leicht zu vertonen. Gelegentlich klingen die Sätze zu ironisch. Neben der eigentlichen Handlung gibt es kleine Nebenthemen: die Familiengeschichte Lucians, die Polizeiarbeit, die Alten bis hin zur Demenz. Auch der Sound fängt eine ländliche Kulisse ein. Was so gemächlich beginnt, endet immer anders als der Hörer erwartet. Extrem spannend erzählt und mitunter ebenso unerwartet brutal. Alles ohne Zeigefinger.
Freeman ist im Übrigen ein Lehrmeister der Gesprächstherapie. Mit welchem Gespräch Lucian in der Eingangsszene von Herren der Lage den durchgeknallten Rumba wieder in die Normalität entführt, ist (be-)merkenswert. Und Freeman gelingen wunderschöne Sätze, die bestens ins Radio passen: „Da wird eine ganze Menge nicht gesprochen“.
Die Hörspiele unterhalten bestens und öffnen ein wenig ein Fenster in das ländliche Amerika. Das Land, in dem es mehr Waffen als Menschen gibt.
Fazit
Man muss schon die ruhige Erzählweise mögen. Tempo und Dramatik darf der Hörer nicht erwarten. Aber viel spannender als jede Inhaltsangabe andeuten kann. Es lohnt sich auch die Hörspiele von 2018 zu genießen.
Couch-Wertung: 90°
ARD Audiothek
"Krimi-Hörspiele: Mediatheken / Tipps 31" von Malte Stamer, 10.2023
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Fotos: istock.com / tolgart
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