Cold Case

Ein Krimi-Couch Spezial von Jochen König

Vergangen, aber nicht vergessen

Wer bei „Cold Case“ an Kathryn Morris denkt, hat ein gutes Gedächtnis. Als etwas anämische, aber immer betörende, charmante und taffe Polizistin Lily Rush war sie Mittelpunkt der Abteilung für abgelegte, „Cold Cases“, denen die Serie ihren Namen verdankt. Zwischen 2003 und 2010 ermittelten Rush und ihr Team in Fällen, die aus der jüngeren Vergangenheit bis ins Jahr 1919 zurückreichten. Die spannende und sehr passend besetzte Serie umwob immer ein Hauch von Traurigkeit, der nicht nur der innerbetrieblichen Dramatik geschuldet war, sondern hauptsächlich dem Umstand, dass so viele Menschen in der Ungewissheit leben und manchmal sterben mussten, nicht zu erfahren, wer für den Tod einer nahestehenden Person verantwortlich war.

„Cold Case – kein Opfer ist je vergessen“ nutzte oft die Gelegenheit die Fälle der Woche mit dem jeweiligen Zeitgeschehen zu verbinden, ohne dass ein belehrender Tonfall herrschte. So spielten die Suffragetten eine Rolle, rassistisch und anderweitig motivierte Hate-Crimes, aber auch familiärer Gewalt und Missbrauch. Religion und Politik wurden auf kriminelle Aspekte hin beleuchtet. Im Mittelpunkt standen aber, neben den Ermittlern,  immer die Opfer, deren Angehörigen und Freunde. Die Zeit heilt keine offenen Wunden, konkrete Ermittlungsergebnisse schon.

Eine Serie taucht unter

Mittlerweile sind die sehenswerten sieben Staffeln selbst so eine Art „Cold Case“. Denn es gibt aktuell ebenso wenig einen Streaminganbieter, der die Serie ausstrahlt wie eine Veröffentlichung auf DVD oder Blu ray. Aus einem simplen Grund, der nichts mit Qualität und Erfolg zu tun hat. „Cold Case“ erlaubte sich den Luxus, jede Folge mit einem thematisch passenden Song zu beenden. Der von den Verantwortlichen mit viel Gespür und Musikverstand ausgewählt wurde. Dummerweise wurde dadurch die Rechteverwertung zu einem Minenfeld, dass sich niemand zu betreten traute. Heißt konkret, die anfallenden Verwertungskosten sind den Verantwortlichen zu hoch und unübersichtlich.  Einzige Chance die Serie derzeit zu Gesicht zu bekommen sind Wiederholungen im linearen Fernsehen.

Vergangen, aber nicht vergessen

Einer der bekanntesten kalten Fälle, die in Deutschland aufgeklärt wurde, war der Mordfall Carmen Kampa. Die damals 17-jährige wurde im November 1971 vergewaltigt, mit einem Messer attackiert und erwürgt. Zwar wurde kurze Zeit später der homosexuelle Bauarbeiter Otto Becker verhaftet, doch war die Beweislage mau und der Tatverdacht gegen Becker wurde noch stärker erschüttert, als ein weiterer möglicher Täter ins Visier geriet. Folgerichtig wurde Otto Becker 1975 freigesprochen. Danach fanden sich weitere Verdächtige, aber keine konkreten Beweise. Erst 2011 gelang es durch die Nachstellung des Tathergangs, einen Wachmann als Mörder zu überführen.

Es wird davon ausgegangen, dass es in Deutschland mehr als tausend ungeklärte Todesfälle gibt. Tötungsdelikte außen vorgelassen, die gar nicht als solche erkannt werden. Vor allem die technische Entwicklung, besonders natürlich in Bezug auf DNA- und Spurenanalyse, bringt es mit sich, dass solche Fälle wieder auf den Prüfstand gelangen und häufig Jahre und Jahrzehnte später aufgeklärt werden können.

Der tückische Mr. Big und die Cold Case-Unit

Wie so oft in der Kriminalistik sind die USA Vorreiter bei der Arbeit an alten Fällen. 1996 wurde dort die erste Cold-Case-Unit gegründet, in Deutschland wurden vermehrt in den letzten fünf Jahren solche Einheiten eingerichtet, gerne auch „Soko Altfälle“ genannt. 

Nicht immer ist die Arbeit dieser Abteilungen unumstritten. Aus Kanada wurde das „Mr. Big“-System übernommen. „Mr. Big“ steht als Synonym für ein Fakeprofil, das Ermittler übernehmen – oder als Fiktion aufbauen -, um im Umfeld von Verdächtigen undercover zu arbeiten. Abgesehen davon, dass solch eine verdeckte Ermittlung viel Zeit in Anspruch nehmen kann, besteht immer die Gefahr, dass „Mr. Big“ als solch verlockende, zukunftsversprechende Gestalt aufgebaut wird, sodass falsche Geständnisse nicht ausgeschlossen sind. Jemand brüstet sich  mit einem Mord, den er nicht begangen hat, um Mr. Big zu zeigen, was für ein harter Kerl er doch ist. Unabhängig davon spielt auch die verstrichene Zeit eine Rolle. Zeugen, per se nicht die verlässlichsten Quellen der Wahrheit, vergessen, erfinden neues, lassen sich auf die ein oder andere Art manipulieren oder müssen gegen verschwimmende, schwindende Erinnerungen ankämpfen.    Fehlschlüsse sind unvermeidbar.

Auf einer gesicherteren Bank ist man, wenn es um DNA-Spuren und ähnliches geht, die sich einem bestimmten Verdächtigen zuordnen lassen.

Der Cold Case in Literatur und bewegten Bildern

In die Kriminalliteratur fand die Beschäftigung mit unaufgeklärten Fällen natürlich ebenfalls Einzug. Hierzulande am bekanntesten dürfte Jussi Adler-Olsens Reihe um Carl Mørck und das mit reichlich Geldmitteln ausgestattete Dezernat Q sein, in der Adler-Olsen sich mit den Schattenseiten der dänischen Politik und Gesellschaft auseinandersetzt. Nicht durchgängig überzeugend, aber immer erfolgreich.

Die umtriebige Val McDermid gönnte ihren Protagonisten Tony Hill und Carol Jordan eine Ruhepause und schickte Karen Pirie samt Kollegen Detective Inspector Phil Parhatka in die Vergangenheit, ähnlich wie hierzulande die Autorin Inge Löhnig ihre Ermittlerin Gina Angelucci. Ein paar Reihen dahinter wartet B.C. Schiller auf die Chance, die Vergangenheit nicht unterbelichtet zu lassen. Interessanter ist da schon der Australier Gary Disher, der unweit von Melbourne ein „Kaltes Licht“ auf die Vergangenheit wirft. Oder aus ihr herüberschimmern lässt.

Neben „Cold Case – Kein Opfer ist je vergessen“ spielen Altfälle eine Rolle in Forensik-Serien wie dem Kathy Reichs-Vehikel „Bones – Die Knochenjägerin“ oder der englischen Produktion „Waking The Dead“. Dort ist auch das in den Jahren 2010/11 entstandene dokumentarisch orientierte „History Cold Case“ („Die vergessenen Toten“) daheim. Da der NCIS seit 1995 seine eigene Cold Case-Einheit besitzt (Cold Case Homicide Unit, abgekürzt CCHU), verwundert es nicht, dass auch die langlebige NCIS-Serie sich gelegentlich der Vergangenheit annimmt.  Natürlich behandelte „C.S.I.“ die Serie, die samt ihrer Ableger wie kaum eine andere die Krimi-TV-Landschaft der Nullerjahre beherrschte, mitunter kalte Fälle. Mit „Cold Reveal“ entstand 2007 gar eine Crossover-Episode, in der „Cold Case“-Cop Scottie Valens  den Kollegen von „C.S.I. New York“ einen Kurzbesuch abstattet.

In Dänemark nahm sich unter anderem die dritte Staffel von „Kommissarin Lund – Das Verbrechen“ des Themas erfolgreich an, während in Schweden 2016 die „Springflut“ einsetzte. Die sehenswerte, atmosphärische zehnteilige Serie basiert auf dem gleichnamigen Roman von  Cilla und Rolf Börjlind und wurde postwendend um eine zweite Staffel erweitert.

Vielfältige Möglichkeiten der Vergangenheits- und Trauerbewältigung

Der Cold Case erlaubt es in Romanen, Film und Fernsehen die Vergangenheit zu erforschen, um aus  und mit ihr Schlüsse für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen. So kann die technologische Entwicklung thematisiert werden, aber auch gesellschaftliche, soziale und politische Verhältnismäßigkeiten. Fasst man den Begriff sehr weit, fallen darunter sogar Romane wie die Bücher von Mechtild Borrmann, in denen intensiv beschriebene Zeitgeschichte den Hintergrund bildet für Verbrechen, die im faschistischen Deutschland („Wer das Schweigen bricht“) oder der stalinistischen Sowjetunion (Der Geiger“) stattfanden und erst Jahrzehnte später Aufklärung finden. Erinnerungsarbeit als einzig möglicher Form einer Art von Gerechtigkeit.

Der Cold Case bietet ein breites Spektrum, das in Kultur und Realität reichlich Untersuchungsbedarf besitzt und die entsprechenden Möglichkeiten dazu garantiert finden wird. Interesse und fachkundige Hände vorausgesetzt.

From hell

Nicht zu vergessen: Der berühmteste Cold Case der jüngeren Geschichte, einflussreich wie kaum ein anderer für die Kulturgeschichte, wartet immer noch auf seine finale Aufklärung: Wer war Jack The Ripper? Zwar scheinen DNA-Spuren auf einen damalig höchst Verdächtigen, den psychisch kranken Barbier Aaron Kosminski hinzuweisen, doch amtlich ist das nicht. So vermutet der  schwedische Journalist Christer Holmgren, der sich über dreißig Jahre mit Jack The Ripper beschäftigte, dass der Täter ein gewisser Charles Allen Lechmere sei, der zur Tatzeit gar nicht als Verdächtiger auftauchte.

Die Kay Scarpetta-Schöpferin Patricia Cornwell hingegen investierte nach eigenem Bekunden rund sieben Millionen Dollar in die Suche nach Jack The Ripper, um am Ende den deutschstämmigen Maler Walter Sickert als Serienkiller zu präsentieren. Cornwells Buch über ihre Bemühungen um den Fall ist kein Sachbuch, sondern eher das Dokument einer exzentrischen Besessenheit. Niemand, der sich ernsthaft mit Jack The Ripper befasste, folgte der Einschätzung der Autorin. Ein gravierendes Problem liegt bereits darin, dass sie die Beweis- und Indizienlage ihrem Verdächtigen anpasst, anstatt unvoreingenommen Vergleiche anzustellen und auch entlastendes Material auszuwerten.  Investigative Polizeiarbeit funktioniert so nicht. Cornwells niedergeschriebenen Erkenntnisse sind bestenfalls ein trauriges Lesevergnügen und taugen kaum etwas zur Aufklärung. Die Frage nach der Identität Jack The Rippers ist immer noch nicht eindeutig geklärt. Es bleibt spannend. 

"Cold Case" von Jochen König
Titel-Motiv "Handabdruck": © istock.com/fotocelia

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