Dunkel

  • btb
  • Erschienen: Mai 2020
  • 7

- OT: Dimma

- aus dem Isländischen von Kristian Lutze

- Bd. 1/3

- Broschur, 384 Seiten

Dunkel
Dunkel
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Carola Krauße-Reim
75°1001

Krimi-Couch Rezension vonOkt 2020

Der Auftakt zur Hulda-Trilogie ist gleichzeitig ihr Ende

Dunkel, Insel und Nebel sind die drei Bände der Hulda-Trilogie des Isländers Ragnar Jónasson. Trilogien findet man in der Thriller-Literatur häufiger, aber diese ist ungewöhnlich im Aufbau: Statt sich chronologisch vorwärts zu bewegen, beginnt hier die Reihe mit dem letzten Band - also eigentlich mit dem Ende - und bewegt sich dann mit den beiden Folgebänden immer weiter in die Vergangenheit, bis man am Anfang der Geschehnisse steht, die Hulda so stark prägen, dass sie darunter auch noch nach mehr als 30 Jahren leidet.

Hulda ist eine sehr komplexe Protagonistin

Im Mittelpunkt der Trilogie steht Hulda Hermannsdóttir, Kommissarin bei der Polizei in Reykjavík und kurz vor der Rente. Sie ist irgendwann auf der Karriereleiter steckengeblieben, wurde von den männlichen Kollegen überholt und muss mittlerweile mit Vorgesetzten arbeiten, die ihre Kinder sein könnten. Ihre eigene Tochter hat mit dreizehn Selbstmord begangen, ihr Mann ist kurz danach an einem Herzinfarkt gestorben. Das ist jetzt mehr als 20 Jahre her, doch Hulda leidet täglich unter ihren Verlusten – den der Familie und den der Karriere. Jónasson hat eine Heldin geschaffen, die in ihrer Zerrissenheit und Einsamkeit sehr an die tragischen Frauenfiguren klassischer Tragödien erinnert. Doch manchmal übertreibt er es mit der Charakterisierung: Ständig wird der Leser an Huldas Trauma erinnert, ständig lamentiert sie über ihren Karriereknick sowie das Mobbing als Frau in der Männerwelt der Polizei, und ständig bekommt man ihren sozialen Hintergrund unter die Nase gerieben. Dabei gleiten die Handlungen zwangsläufig häufig ins Unglaubwürdige ab - denn niemand kann mehr als 20 Jahre mit kaum Schlaf auskommen, und keine gestandene Frau sollte sich von ihren arroganten und sexistischen Mitarbeitern und Vorgesetzten so herabwürdigend behandeln lassen, erst recht nicht, wenn sie es sowieso nur noch kurze Zeit mit ihnen aushalten muss. Selbst als Hulda quasi von jetzt auf gleich in den Ruhestand versetzt wird, ist sie grau und verhuscht wie eine Maus. Etwas mehr Rückgrat und etwas weniger dick aufgetragenes Selbstmitleid hätten der Figur, die sich ständig nur als Opfer sieht, nicht geschadet - im Gegenteil, es hätte sie glaubwürdiger und sympathischer gemacht. So möchte man Hulda manchmal nur noch kräftig durchschütteln und sagen „Mensch Frau, wehr dich doch endlich mal!“

Zwei Themen bilden den Handlungsstrang

Als ihr Vorgesetzter Magnús Hulda eröffnet, dass ihre Arbeit bereits an jüngere Kollegen übergeben wurde, sie ihren Schreibtisch räumen soll und die letzten Monate bis zum offiziellen Rentenbeginn in bezahlten Urlaub geschickt sei, schafft sie es, ihn zu überreden, ihr einen cold case ihrer Wahl zu überlassen. Damit ist neben dem komplizierten Privatleben der Kommissarin der zweite Teil des Handlungsstranges eröffnet: Vor einem Jahr wurde die Leiche einer russischen Asylbewerberin gefunden. Ihr Tod wurde als Selbstmord abgetan, doch Hulda weiß, dass der zuständige Kollege, Alexander, ein miserabler Ermittler ist und sie glaubt, dass die junge Frau ermordet wurde. Sie beginnt mit den Ermittlungen, ganz auf sich gestellt, ohne Rückendeckung, und muss bald erkennen, dass es noch eine vermisste Asylbewerberin gibt, deren Verschwinden jedoch niemanden zu interessieren scheint. Aber Hulda ist hartnäckig und begibt sich damit in große Gefahr. Dieser Plot ist eines Scandi-Noir würdig, doch Jónasson schafft es nicht, die Vielschichtigkeit anderer Werke dieses Genres zu erlangen. Zwar gibt es Rückblicke in Huldas Vergangenheit; Passagen, in denen zwei Unbekannte agieren und die atmosphärisch dichte Schilderung Islands tun ihr Übriges, doch der Handlungsstrang ist immer noch zu geradlinig, und so schafft der Autor es einfach nicht, an die Komplexität der Bücher von z.B. Arnaldur Indriðason oder Ingar Johnsrud heranzukommen.

Spannung kommt erst spät auf

Jónasson braucht lange, bis seine Geschichte an Schwung zunimmt; erst im letzten Drittel der Erzählung hat man das Gefühl, dass es doch noch ein Thriller werden könnte. Davor wird der Leser erst ausgiebig mit Huldas Situation bekannt gemacht, und auch die Ermittlungen dümpeln in einer langen Anlaufphase vor sich hin. Ein Highlight in dieser langen, blassen Ouvertüre sind die Beschreibungen Islands: Während bei uns der Mai als Wonnemonat gilt, schafft die Sonne es in Island gerade einmal bis zum Horizont; es ist noch kalt, Regen und Schnee in den Bergen sind nichts Ungewöhnliches. Dazu kommt die Einsamkeit, sobald man die Ortschaften verlässt. Der Autor beschreibt die karge, schroffe und dennoch grandiose Landschaft so anschaulich, dass man sich manchmal dort wähnt und den Nebel, die Dunkelheit und die scharfen Steine der Lavafelder fast zu spüren glaubt. Doch dann geht es schlagartig los – die Spannung steigt von Seite zu Seite und gipfelt in einem Schluss, von dem man immer noch hofft, dass er gut ausgeht. Das Ende dieses ersten Bandes - und damit eigentlich auch das der Trilogie - ist einfach nur ein Kracher, und als Leser braucht man eine Weile, um es zu realisieren und wieder in der Wirklichkeit anzukommen. Hier hat Jónasson dann doch noch die geballte Ladung Scandi-Noir hervorgeholt.

Fazit

Dunkel ist ein nicht in Gänze überzeugender Thriller. Zu lange braucht das Geschehen, bis es an Fahrt aufnimmt. Doch über diese lange Anlaufphase trösten der flüssig zu lesende Schreibstil und die atmosphärisch dichten Schilderungen Islands hinweg. Bis zum äußerst fulminanten Finale wird dann aus dem mäßig spannenden Buch doch noch ein Nordic-Noir, der den Namen verdient.

Dunkel

Ragnar Jónasson, btb

Dunkel

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