Verbrechen

  • Piper
  • Erschienen: Januar 2009
  • 18
  • München; Zürich: Piper, 2009, Seiten: 205, Originalsprache
  • München; Zürich: Piper, 2010, Seiten: 205, Originalsprache
  • München; Zürich: Piper, 2011, Seiten: 208, Originalsprache
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Jochen König
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonNov 2009

Der tiefgründige Blick eines blinden Mädchens

Ein ungewöhnlicher Autor, ein ungewöhnliches Buch. Ferdinand von Schirach ist nicht nur der Enkel des ehemaligen NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach (wofür er natürlich nichts kann), sondern auch erfolgreicher Rechtsanwalt in Berlin.

"Stories" steht lapidar unter seinem ersten belletristischen Werk Verbrechen. Elf Geschichten zwischen 14 und 32 Seiten, die auf realen Fällen aus von Schirachs Kanzlei beruhen.  Knappe, lakonische Fallbeschreibungen, die darauf hinaus laufen, dass der Anwalt von Schirach engagiert wird  - in einem Fall, der Böse endet, auch wieder entlassen wird – und es zu einem überraschenden Finale kommt. So verbindet das erzählende Anwalts-Ich die kurzen Episoden, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Es finden sich ein:

- ein menschenfreundlicher Arzt, der sich auf radikale und tödliche Weise von seinem Ehejoch befreit, da er ein gegebenes Versprechen nicht brechen will.
- eine Teeschale, die mehrere Menschenleben wert ist. Zumindest für ihren Besitzer und seine Vorstellung von kulturellem Vermächtnis.
- familiäre Kälte, die auch durch die Kraft der Musik nicht gebrochen werden kann. Stattdessen sämtliche Familienmitglieder bricht.
- ein Underachiever, der Vorurteile gegen die Justiz ausspielt.
- ein tödlicher Herzinfarkt, der direkt ins Schlachthaus bedingungsloser Liebe führt.
- die Tücken der Zeitumstellung.
- zwei Skinheads, die sich mit dem Falschen anlegen.
- Zahlen, Farben, bedrohliche Schafe und der kurze Weg zwischen einem verstohlenen Liebestrip und Lynchjustiz im Herzen.
- die Hölle des Alltäglichen. Ein Vergessener auf seiner Mission, den Stachel im versteinerten Fleisch zu finden.
- der verführerische Geschmack von Menschenfleisch. Es gibt einen Unterschied zwischen einem Liebesbiss und einem Lieblingshappen.
- Hoffnung und Glück, die in Äthiopien wohnen.

Soll man erschrecken oder zustimmen, wenn einer Kritikerin des WDR nichts anderes einfällt als: "Boah!"; wenn in Foren gerätselt wird, WELCHER Fall sich GENAU hinter den jeweiligen Geschichten verbirgt. Die Fallgrube liegt nahe: mit der Wirklichkeit hausieren gehen, wie der Redakteur eines Privatsenders, der ein neues Konzept für eine sensationelle Reality Show sucht. Da endet die Bewerberin für Germanys Next Top Model eben nicht auf dem Laufsteg, sondern mit eingeschlagenem Schädel auf einem Hotelbett; das Casting für das Supertalent bringt nicht nur eine Siegerin, sondern auch Sterbehilfe und zwei Selbstmorde hervor, und "Bankräuber sucht Frau" endet hoffnungsvoll im Herzen Afrikas. Ganz kann Verbrechen dieser Gefahr, zu einer Peepshow realitätsäquivalenter Begebenheiten zu mutieren, nicht entgehen. Das liegt aber weniger an den kurzen Erzählungen selbst, als an der Dauerpräsenz des abseitigen Alltags im jederzeit krawallig aufgestellten und ausgerichteten Medienparcours.

In seinen besten Geschichten gelingt es von Schirach tatsächlich, einen tiefschürfenden Blick auf menschliche Befindlichkeiten zu werfen, und über das erste Erschrecken, welche Abgründe in unserer kultivierten Zivilisation lauern, hinaus zu weisen. Manche Geschichte mag wie der Rohentwurf eines noch auszuarbeitenden Drehbuchs wirken, aber in seiner distanzierten, scheinbar emotional unberührten Art,  offenbart sich eine analytische Nachdenklichkeit, die andere Autoren in weitschweifigen Romanen nicht erreichen. Leider unterminiert das erzählende Ich die Poesie einer möglichen Wahrheit durch seine relativierende, altkluge Haltung. Paradebeispiel ist die ansonsten stärkste Geschichte des Bandes "Notwehr". Eigentlich eine rasiermesserscharfe Umkehrung von Ernest Hemingways berühmter "The Killers"-Story, wird die Geschichte durch ihren moralinsauren und wie angeklebt wirkenden Schluss auf ordentliches Mittelmaß zurück geschraubt. Anstatt in einer Studie niederer Instinkte und kühler Berechnung, endet das Ganze mit dem Epilog eines modernen Pontius Pilatus: ich mache mir die Hände nicht schmutzig, wenn ich das Hemd wegwerfe, das ich während der Verhandlung trug (bzw. verliehen habe). Was natürlich auf eine ganz andere, eigenwillige Art und Weise wieder erhellend ist. Freispruch erwirkt und trotzdem schlechtes Gewissen dabei. So sorgt Verbrechen für viel Nachdenkenswertes. Und es lässt sich verdammt gut und – viel zu – schnell lesen.

Nicht alle Geschichten sind gleich gelungen; die längste läuft auf eine allzu vorhersehbare Pointe hinaus. Hat mit ihrem ambivalenten Schluss aber immerhin einen kleinen Widerhaken zu bieten. Die eigentlich treffende Studie eines angehenden Kannibalen verliert durch ihren "ich hab’s ja gewusst" Duktus etwas an Wirkung. "Der Igel" ist eine nette Eulenspiegel-Tirade für zwischendurch, und der rührselige "Äthiopier" ist reinstes Bollywood, auch wenn kaum getanzt wird. Ohne Augenzwinkern als Abschluss präsentiert: Respekt!

Dass es nebenbei noch ein wenig über das deutsche Rechtssystem zu lernen gibt, wird gerne in Kauf genommen.

Eine letzte spannende Frage bleibt indes, ob Verbrechen einen Nachfolger erhalten wird; oder ob wir nur Zeuge eines einmaligen, wenn auch lesenswerten, egozentrischen Ausbruchs geworden sind.

Verbrechen

Ferdinand von Schirach, Piper

Verbrechen

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