An Inspector Calls

Film-Kritik von Jochen König (01.2020) / Titel-Motiv: © Edel Motion/Glücksstern

Ein starkes Stück

John Boynton Priestley (1894-1984) war ein rühriger Autor. Seine Bibliographie ist kaum überschaubar, rund 150 Werke werden ihm zugeschrieben. Darunter zahlreiche Romane, Essays, Drehbücher und rund 50 Theaterstücke. In seinem Heimatland wurde er mitunter als moderne Variante von Charles Dickens gehandelt, in Deutschland fiel die Rezeption magerer aus. Wenige seiner Romane wurden übersetzt und sind heute nur noch antiquarisch erhältlich, ähnliches gilt für den Großteil seiner Theaterstücke. Mit einer Ausnahme: „An Inspector Calls“ („Ein Inspektor kommt“) genießt auch hierzulande recht hohe Popularität und Ansehen. Aus einem einfachen Grund: Das Kammerspiel war (und schön wäre: ist) Schullektüre. Eine der Erfreulichsten.

Die Welt ist unsere Auster

An einem Abend im Jahr 1912 sitzt die betuchte Industriellenfamilie Birling zusammen, um auf die kommende Verlobung von Tochter Sheila mit dem ebenfalls aus „gutem Hause“ stammenden Gerald Croft anzustoßen. Arthur und Sybil Birling sind Musterbeispiele saturierter Selbstzufriedenheit, Sohn Eric hadert mit seinem Schicksal und ist dem Alkohol äußerst zugeneigt, das Brautpaar scheint glücklich zu sein, bereit eine vielversprechende Bindung einzugehen. Man unterhält sich über Tagesaktualitäten. Während die Jugend sich am Vorabend eines großen Krieges wähnt, hält Mr. Birling diese Befürchtung für blanken „Unsinn“: „ Die Deutschen wollen ja gar keinen Krieg. Keiner will Krieg außer ein paar Halbwilden auf dem Balkan. Und warum? Es steht zuviel auf dem Spiel heutzutage. Man kann durch den Krieg nur alles verlieren und nichts gewinnen.“ Eine krasse Fehleinschätzung wie die nächsten Jahre unerbittlich zeigen werden.

Doch selbst Gespräche über das große Schlachten lassen die vergnügte Stimmung nicht verblassen. Das geschieht erst, als es an der Tür klingelt und ein Polizist den Salon betritt, der die illustre Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern wird. Zumindest für einen vergänglichen Moment.

Eine Befragung des Gewissens

Inspector Goole möchte die gesamte Familie befragen und wird dies auch stoisch und hartnäckig tun. Ein Verhör nach dem anderen. Er untersucht den Selbstmord der jungen, schwangeren Eva Smith, die aus Verzweiflung Salzsäure getrunken hat (in der Verfilmung abgewandelt in Desinfektionsmittel) und jämmerlich gestorben ist. Im Laufe der Befragungen stellt sich heraus, dass jeder der Anwesenden das tödliche Schicksal der Frau mitbeeinflusst hat. Arthur Birling entließ sie fristlos aus seiner Firma, weil er die hart arbeitende Näherin für eine Rädelsführerin bei einem Streik hielt, bei dem es um wenige Pence Lohnerhöhung ging. 

Sheila Birling sorgte für die prompte Kündigung in einem Bekleidungsgeschäft, kurz nachdem Eva wieder Fuß gefasst hatte. Aus einer schlechten Laune heraus, gepaart mit Eifersucht auf die schöne junge Frau.

Gerald Croft macht sich schuldig, weil er in Eva Hoffnung auf ein besseres Leben weckt und sie dann fallen lässt. Mrs. Birling verweigert ihr Hilfe, als sie es am nötigsten braucht, und Eric… - das findet selbst heraus.

Der Inspector namens Goole entlockt der Familie und dem Angetrauten (der noch am besten wegkommt) dunkle Geheimnisse und verschwindet, um die Birlings und Gerald Croft ihren Zweifeln, Ängsten und Lügen zu überlassen. Doch die Reue und Bedrückung währt nicht lang. Wenige Anrufe später macht sich Erleichterung breit. So scheint es zumindest. Bis zur höchst gelungenen Schlusspointe.

Ein großartiges Ensemble…

Die Verfilmung der BBC hält sich weitgehend an das Theaterstück, erweitert die Handlung aber um ein paar Außenansichten, explizit, um Eva Smiths (und die ihrer Alter Egos) Geschichte zu visualisieren und dadurch die Dramatik zu erhöhen. Das gelingt erstaunlich gut, weil nicht zu sehr auf die Tränendrüse gedrückt wird und die vorzügliche Sophie Rundle (u.a. Ada Shelby in „Peaky Blinders“ sowie Ann Walker im vielgelobten „Gentleman Jack“) ihre Eva passgenau zwischen erwachendem Selbstwusstsein und großer Verletzlichkeit darstellt.  Die hauptsächlich aus den ökonomischen Bedingungen resultiert. Hast du nichts, bist du nichts – und auch das kann dir noch genommen werden.

Schauspielerisch ist das Werk aus dem Jahr 2015 exzellent besetzt. David Thewlis (Remus Lupin in den Harry Potter-Verfilmungen), geschniegelt wie selten, spielt seinen unerbittlichen wie mitfühlenden Inspector Goole so eindrücklich, weil er sich nicht in den Vordergrund drängt. Da steht auch schon Ken Stott – der bereits Ian Rankins John Rebus personifizierte – als larmoyantes, großmäuliges Ekel, das durch fast nichts zu erschüttern scheint. Bis es doch passiert. Stott gelingen aber auch Zwischentöne, die seine Verunsicherung ausdrücken, und sei es für Sekunden.

An seiner Seite, in all ihrer überheblichen Pracht, agiert Miranda Richardson  als Mrs. Birling. Richardson spielt die Gattin voller Standesdünkel, mit dem Glauben etwas Besseres zu sein, weil man es sich leisten kann, mit irritierender Selbstverständlichkeit. Auch sie, die sich als Wohltäterin der Menschheit sieht und doch nur gnadenlose Richterin ist, unerschütterlich in ihren Ansichten, bis sie an ihren eigenen Worten gemessen wird. Und zum ersten Mal sprachlos ist.

Die unbekannteren Darsteller   Finn Cole, Chloe Pirrie und Kyle Soller als Nachwuchs zwischen Anpassung, Übernahme alter Muster und Auflehnung, stehen dem kaum nach. Eine geschlossene Ensemble-Leistung, die Regisseurin Aisling Walsh gekonnt zu nutzen weiß.

… spielt gegen den Soundtrack an

Führt zum größten Kritikpunkt der Verfilmung: Die Schauspieler präsentieren sich bestechend, die Inszenierung ist stimmungsvoll und in den passenden Momenten sehr geschickt darin, auf Distanz zu gehen, um die Szenerie wirken zu lassen. Das wird fast zunichte gemacht durch einen orchestralen Soundtrack, der fast jede Szene zukleistert. Obwohl Schauspiel, Drehbuch und Inszenierung ohne untermalenden Soundbrei bestens funktionieren würden. Schade. Erst gegen Ende unterstützt die Musik das Gezeigte, anstatt es mit Überfluss zu torpedieren. Mehr Vertrauen in die Zuschauer hätte dem Film gutgetan.

Spannend und immer noch aktuell

„An Inspector Calls“ ist ein Stück, das gerne mit dem Attribut „zeitlos“ versehen wird. Zu Recht. Mittlerweile hat der Inspector gut 65 Jahre auf dem Buckel, aber seine Geschichte um Eigen- und Mitverantwortung, darüber wie Handlungen und Denkungsarten das Leben, und möglicherweise den Tod anderer Menschen beeinflussen, ist so aktuell wie eh und je. Man kann „The Inspector Calls“ als bitterböse Satire, gespickt mit heftiger Kapitalismuskritik sehen, als existenzialistisches Drama, aber auch als spannendes Genrestück, das ganz ohne Mord und Metzeleien auskommt. Die Verbrechen, die begangen werden, sind viel diffiziler und hintergründiger als stupide Gewaltausbrüche, aber dadurch nicht weniger wirkmächtig. Wie so oft gilt John Donnes Betrachtung:

„Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes. Wenn eine Scholle ins Meer gespült wird, wird Europa weniger, genauso als wenn’s eine Landzunge wäre, oder ein Landgut deines Freundes oder dein eigenes. Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.“ (John Donne, Meditation XVII)

Das ist in der BBC-Version glänzend umgesetzt (Ausnahme s.o.), und die Beteiligten taten gut daran, den Stoff nicht mit modischen Accessoires aufzupeppen. Die tragische Geschichte wirkt ohne pädagogische Holzhammermethoden, den Darsteller*innen kann man sich getrost anvertrauen, Regisseurin Walsh und Drehbuchautorin Helen Edmundson verstehen ihr Handwerk. John Boynton Priestley sowieso.  Ergibt ein TV-Highlight, das spannend und gelegentlich finster komisch unterhält und gleichzeitig einprägsam auf essentielle Themen eingeht. Die Hölle sind die anderen. Doch dann kommt Inspector Goole vorbei und lockt heraus: Wir selbst sind die anderen. Ein starkes Stück.

Ein kleines Postskriptum

Und zwar zum Thema „Kapitalismuskritik“: Weil Priestley das 1944 entstandene Stück schnell auf der Bühne sehen wollte, und in England zunächst Zurückhaltung herrschte (es wurde vermutet, dass Stück sei zu negativ und heikel für das britische Publikum in der Nachkriegszeit), fand die Uraufführung von „An Inspector Calls“ in der Sowjetunion statt (in Moskaus Kamerny Theater und Leningrads Comedy Theater). Was ihm im Westen anfangs den Ruf eines üblen „bolschewistischen“ Machwerks einbrachte. 1946 erlebte es seine englische Premiere im Londoner New Theatre. Die Titelrolle verkörperte Ralph Richardson, als Eric Birling stand der junge Alec Guinness auf der Bühne.  Das Zuschauerinteresse war zunächst mau, bis Mundpropaganda und hervorragende Kritiken „An Inspector Calls“ jene Aufmerksamkeit und Anerkennung verschafften, die das Theaterstück auch verdient hat.

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An Inspector Calls

Autor: J. B. Priestley, adaptiert fürs Fernsehen von Helen Edmundson
Darsteller:  David Thewlis, Miranda Richardson, Ken Stott, Sophie Rundle, Chloe Pirrie , Finn Cole, Kyle Soller
Bonus: Zwei Featurettes: Eine Adaption für eine neue Generation, Die zeitlose Kraft von An Inspector Calls
Sprachen: Deutsch/Englisch, UT: Deutsch/Englisch;
Laufzeit: 86 Minuten
VÖ: 15.11.2019
Pandastorm
FSK: Ab 12

Cover und Fotos: © Edel Motion/Glücksstern

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